telling a work of art /
Arbeiten die man sich erzählen kann
an e-mail project by Karin Sander
Betreff: AW: telling a work of art
Datum: Fri, 19 Apr 2019 14:00:00
Von:
York Hoeller
An:
Karin Sander
Ein Mächtiger des Guten
Pierre Boulez im Spiegel meiner Erinnerungen
von York Höller
Im Juni 1961 – ich war siebzehn Jahre alt – nahm ich an einer gymnasialen Klassenfahrt nach Wien teil. Der einwöchige Aufenthalt in der Donaumetropole war dicht gefüllt mit Besichtigungen und Theaterbesuchen. Über den letzten Abend durfte aber jeder von uns frei verfügen. Während es die meisten Klassenkameraden zum Prater zog, besuchte ich ein Konzert im Musikverein, wo Pierre Boulez eigene Werke dirigierte. Als angehender Komponist noch ganz unter dem Einfluss von Bartók und Strawinsky stehend, wirkte die Boulezsche Musik auf mich bizarr und fremdartig, gleichzeitig hochinteressant in ihrerfarbig-kühlen Klanglichkeit, die wesentlich durch mehrere Harfen und ein reiches Arsenal an Schlagzeug geprägt wurde. Die Universal Edition bot in der Vorhalle neue Noten zum Verkauf an, und ich erwarb die Klavierstücke I–IV von Karlheinz Stockhausen und den ersten Band der „Structures“ von Boulez, mit denen ich mich dann einige Jahre später kritisch auseinandersetzte (siehe meine 1966 entstandene Schrift „Fortschritt oder Sackgasse?“, Saarbrücken: Pfau, 1994.)
1965 nahm ich an den Darmstädter Ferienkursen teil, wo Boulez zum letzen Mal als Referent auftrat. Er sprach diesmal nicht über eigene Werke, sondern über signifikante Stücke von Strawinsky und Schönberg, indem er sie unter dem Aspekt der Bildung „harmonischer Felder“ untersuchte. Wichtige Erkenntnisse in dieser und manch anderer Hinsicht fand ich auch in der Schrift „Musikdenken heute“, in der Boulez zwar meiner Meinung nach stellenweise ein wenig dogmatisch vorging, aber die Dinge von Grund auf neu beleuchtete. Sie ist gewiss in engem Zusammenhang mit der Komposition von „Pli selon pli“ zu sehen, einem Werk, das ich stets in besonderer Weise bewundert habe, und das latent bis in die Ausarbeitung gewisser harmonischer Felder in meiner Oper „Der Meister und Margarita“ fortgewirkt hat.
Hatte ich mich bis dahin für die Musik Richard Wagners nicht übermäßig interessiert, so änderte sich mein Verhältnis zu ihr 1976 durch die aufsehenerregende Interpretation des „Ring“ durch Boulez/Chereau in Bayreuth. Ich erkannte deutlicher als zuvor die innovativen und in die Zukunft weisenden Seiten in der Musik Wagners und knüpfte in meiner instrumental/elektronischen Komposition „Mythos“ vorsichtig hier an (ohne mich der damaligen Tendenz zur „Neoromantik“ anzuschließen. Insgesamt ist hier stilistisch fraglos ein stärkerer Bezug zu Strawinsky, Edgard Varèse und Stockhausen gegeben.
Um diese Zeit herum etablierte Boulez bekanntlich das Ircam, zu dessen offizieller Eröffnung im Oktober 1978 er mir den Auftrag für das instrumental/elektronische Ensemblewerk „Arcus“ erteilte. In meiner speziellen Anwendung eines einheitlichen Codes sowohl für die Form wie für die computergesteuerten Klangprozesse des Werks erblickte Boulez eine originelle Idee, die er in einer zusammen mit Radio France produzierten Kassettenreihe der französischen Öffentlichkeit kommentierend präsentierte und dabei, wie er mir persönlichoffenbarte, auch einige Anregungen für sein späteres, das klangprächtige Großwerk „Répons“ empfing.
Zu der um das Centre Pompidou, das Ircam und Boulez herum versammelten Entourage gehörte unter anderem auch die Witwe von André Malraux und die damals schon zur Legende gewordene Nina Kandinsky. Deren letzten öffentlichen Auftritt, kurz vor ihrer mutmaßlichen Ermordung in der Schweiz, konnte ich 1984 in der Privatwohnung von Madame Pompidou miterleben. Ein unvergesslicher Abend, fürwahr! Er wurde am Schluss noch gekrönt durch einen neuerlichen Kompositionsauftrag für ein größeres Ensemblewerk („Résonance“ für Ensemble und Computerklänge), das Boulez nach der Pariser Uraufführung mehrfach in Europa und Amerika mit der von ihm gewohnten Kompetenz und Reaktionsschnelligkeit dirigierte. Er setzte noch einige weitere Highlights in meinem künstlerischen Leben, als er 1988 gemeinsam mit Daniel Barenboim mein Erstes Klavierkonzert in Paris und Berlin aufführte. Anlässlich seines achtzigsten Geburtstags wollte er sich nicht noch einmal von seinen Freunden musikalisch beschenken lassen (wir hatten dies bereits 1985 und 1995 mit kurzen Stücken getan). So drehte er diesmal den Spieß um und beschenkte seinerseits einige von uns, das heißt, in diesem Fall Elliott Carter und mich, mit Aufführungen unserer Werke auf einer kleinen Tournee mit dem Ensemble Intercontemporain, das er im Lauf der Jahre zu einer allgemein anerkannten Spitzentruppe geformt hatte. Die Geduld und Beharrlichkeit, die er dabei an den Tag legte, und deren erstaunter Zeuge ich mehrfach wurde, stand in auffälligem Kontrast zu dem aggressiven Provokateur, der bekanntlich auch in ihm steckte. Ich habe ihn nie als überheblichen oder von Allmachtsphantasien bewegten Menschen wahrgenommen, was in gewisser Weise vielleicht schon in seiner Handschrift zum Ausdruck kam. Es ist jedenfalls die winzigste, die ich jemals in einem persönlichen Brief zu Gesicht bekommen habe.
Ich darf behaupten, dass ich den künstlerischen – weniger den musikpolitischen – Weg von Pierre Boulez seit 1961 mit aktivem Interesse verfolgt habe, was allerdings angesichts seiner außergewöhnlichen medialen und publizistischen Präsenz auch nicht weiter schwierig war. Angesichts dessen, was er bewegt und keineswegs nur für sich selbst, sondern insgesamt für die Musik des zwanzigsten Jahrhunderts getan hat, darf man vielleicht eine auf Henri IV gemünzte Formulierung von Heinrich Mann aufgreifen: Er war ein Mächtiger des Guten (sofern man ihn nicht gegen sich hatte).