telling a work of art /
Arbeiten die man sich erzählen kann
an e-mail project by Karin Sander
Betreff: Telling a Work of Art
Datum: Sat, 20 Apr 2019 18:50:00
Von:
Klaus Völker
An:
Karin Sander
Beitrag für „Telling a Work of Art“
Klaus Völker
Alfred Jarrys „Faustroll“-Roman
Ein besonderes Theaterereignis mit Folgen war für mich 1958 die Aufführung des „Ubu“ von Alfred Jarry, inszeniert von Jean Vilar im Théâtre National Populaire (TNP) mit Georges Wilson als Vater Ubu und Rosy Varte als Mutter Ubu. Vilar hatte außer „Ubu Roi“ auch Szenen aus „Ubu sur la Butte“ und „Ubu Enchainé“ für seine Spielfassung benutzt und viele Chansons und Gesänge Jarrys als besondere Attraktion von Maurice Jarre vertonen lassen, unter dessen Dirigat ein Chor und das Orchester brillant, auch reichlich schräg musizierten und die Protagonisten den vorwitzigen, übermütigen Ton angaben.
Ich beteiligte mich dann eifrig an der Einrichtung des Textes und der Lieder für unsere Studententheater-Inszenierung an der „neuen Bühne“ in Frankfurt am Main, die im Frühjahr 1959 Premiere hatte und in der ich auch als Cotice, einer der Palotins (Paladine), mitwirkte. Mittlerweile hatte ich den Welschschweizer François Lachenal kennengelernt, der als Patentanwalt bei der Firma Böhringer in Ingelheim arbeitete und dort jährlich im Mai/Juni Kulturtage organisierte. Nach seiner Promotion 1942 hatte er zum schweizerischen diplomatischen Corps bei der Vichy-Regierung gehört und damals mit Autoren des französischen Widerstands kollaboriert. Deren Flugschriften ließ er in der Schweiz in seinem Avantgarde –Verlag „Éditions des Trois Collines“ drucken, um sie dann im Diplomatenkoffer ins besetzte Frankreich zu schmuggeln. 1944 verlegte er auch „Ubu Cocu“ aus dem Nachlass Jarrys, dessen Urschrift er von Paul Eluard erhalten hatte. Lachenal schenkte mir diesen Erstdruck und nach und nach weitere Jarry-Ausgaben und seine Publikationen zu Goya. Er war Mitglied des 1949 in Paris gegründeten Collège des Pataphysique und er sorgte dafür, dass ich parallel zu unserer „Ubu“-Aufführung im Foyer unserer Bühne im Studentenhaus der Johann-Wolfgang-von-Goethe-Universität eine „Expojarrysition“ aus Paris zeigen konnte. Dank Max Horkheimer bekam ich von der Deutschen Bank ein Dutzend abschließbarer Vitrinen für die kostbaren Exponate, darunter sämtliche Erstausgaben der Werke von Jarry.
Die Zürcher Kunstkritikerin Carola Giedion-Welcker, die an einer Monographie über Jarry arbeitete, machte auf der Rückfahrt von der Kasseler Documenta in Frankfurt Station, um die Ausstellung, die sie in Paris verpasst hatte, zu sehen. Sie dankte mir mit einer Einladung in ihr Zürcher Haus am Doldertal, wo ich in den folgenden Jahren oft zu Gast sein durfte. Walter Höllerer forderte mich auf, für die Zeitschrift „Akzente“, deren Mitherausgeber er war, einen Aufsatz über Jarry zu schreiben und eine kleine Auswahl seiner Texte zu treffen und zu übersetzen.
Zur Premiere unseres „Ubu“ und zur Eröffnung der Jarry-Ausstellung kamen erlauchte Spektabilitäten des Collège, darunter Jean Ferry, Roussel-Spezialist und Herausgeber der Werke Raymond Roussels bei Pauvert. Ich wurde als Mitglied aufgenommen, später dann zum Dataire (détaché à Berlin) und zum Commandeur Exquis de l’Ordre de la Grande Gidouille ernannt. Mitglied des Collége seit 1952 und einer dessen Satrapen war auch der Schriftsteller Boris Vian, dessen letztes Stück „Die Reichsgründer oder das Schmürz“ 1959 vom Collège gedruckt, von Jean Vilar uraufgeführt und von Lachenal und mir sofort übersetzt wurde. Vian war Jazzfan, er hatte in den 1940er Jahren im Orchester von Claude Abadie Trompete gespielt. Seit frühester Jugend litt er an einer Herzmuskelschwäche, jeder „Puster“ in sein Instrument verkürzte sein Leben, die Ärzte rieten ihm dringend, nicht mehr zu spielen. Er leitete dann das Jazzprogramm bei Philips, schrieb unzählige Chansons; Magali Noël und Henri Salvador machten sie populär, und mit Chansons wie „Je bois“, dem „Java des Bombes Atomiques“ und dem „Deserteur“ ging er selbst auf Tournee. Nach der Niederlage und dem Abzug der Truppen aus Indochina 1954 führte Frankreich in Algerien Krieg. Godards Film „Le petit soldat“ wurde verboten. Auch Vians Schallplatte mit dem „Deserteur“, adressiert an Staatspräsident Coty, wurde verboten. Das Collège sicherte sich einen Restposten, und man überreichte mir in Frankfurt ein Exemplar, vorsichtshalber getarnt mit einem „Forellenquintett“-Cover. Vian starb im Juni 1959, erst 39 Jahre alt. Raymond Queneau, das Collége de Pataphysique, die Firma Philips und die Agentur Jacques Canetti sorgten für seinen immensen Nachruhm.
Das „Schmürz“ wurde 1960 in prominenter Besetzung in der Werkstatt des Schiller Theaters aufgeführt, einige kleinere Zeitschriften brachten Chansons, bei Wagenbach konnte ich Vians Erzählungsband „Die Ameisen“ veröffentlichen. Aber richtig populär wurde Boris Vian in Deutschland erst durch die Edition seiner Werke beim Verlag Zweitausendeins. Dort konnte ich ab 1979 dann 17 Bände herausgeben, zu denen Art Spiegelman die passenden Umschläge entwarf.
Zurück zu Jarry und seinem „Faustroll“ –Roman. Die Titelfigur agiert als der Begründer und Verkünder der Pataphysik, die in alle Lebensbereiche eingreift und alle fertigen Lösungen aufhebt. Sie ist die Wissenschaft „imaginärer Lösungen“, die ihre größere Bedeutung als Wissenschaft dadurch unterstreicht, dass sie sich dem Speziellen zuwendet und die Welt als ein Mosaik von Zufällen und Ausnahmen sieht, die sich gemäß den Größenangaben der Pataphysik ineinanderfügen. Die Regel erweist sich als wertlose Häufung von zufälligen Fakten, „die nicht einmal den Reiz der Einmaligkeit besitzen, weil sie sich auf wenig außergewöhnliche Ausnahmen beschränken“. Wahre Gesetzmäßigkeit garantiert nur die Pataphysik.
Ausgangspunkt für den Roman Jarrys ist (ähnlich wie für den „Ulysses“ von Joyce) die „Odyssee“ Homers gewesen, Faustroll unternimmt eine Fahrt zu Wasser, die in Wirklichkeit eine Landreise ist und nie über Paris hinausführt. Die Inseln, an denen jeweils kurze Zeit haltgemacht wird, sind hauptsächlich Werke der Literatur und Malerei der symbolistischen Epoche. Sie fungieren als Absprungbrett zur nächsten Station zyklischer Erkundung. Die Einzelteile fügen sich im pataphysischen Grundmuster zusammen. Auf seiner Reise wird der Doktor von Backenbuckel begleitet, einem Hundspavian, der nur das Wort „Ha ha“ sprechen kann, sowie dem Gerichtsvollzieher Panmuffel, der auch der Erzähler des Romans ist.
Der Name Faustroll ist sicher eine Zusammensetzung von „Faust“ und „rollen“. Der Doktor spielt die „Rolle“ Fausts und er bewegt sich rollend (sein Boot ist ein Bettgestell auf Rollen). Möglich ist auch eine Lesart „Faust-drôle“, Faust, der Närrische. Jarry war mit der deutschen Sprache gut vertraut. Er hat die Komödie „Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung“ von Grabbe ins Französische übersetzt, er hat Grillparzer und Gerhart Hauptmann gelesen, adaptiert oder für Aufführungen vorgeschlagen. Die skurrile Erscheinung Faustrolls macht wahrscheinlich, dass Jarry auch einen Troll im Namen des Doktors assoziierte. Er selbst spielte 1897 im Théâtre de l’Oeuvre einen Troll in Ibsens Schauspiel „Peer Gynt“.
Die genaue Lektüre und Übersetzung von „Heldentaten und Ansichten des Doktor Faustroll, Pataphysiker“ führte dazu, dass ich die 27 „ebenbürtigen“ Bücher und auch die Werke sonst noch erwähnter Autoren las, um die Zitate zu verifizieren und um sie auch besser im Kontext ihrer Erwähnung zu verstehen. Mein literarisches und dramaturgisches „Standbein“ war schon in der Schulzeit vor allem Bertolt Brecht, der von den Frankfurter Städtischen Bühnen seit 1952 konstant gespielt wurde. Mein „Spielbein“ aber waren der Ubuismus und die Pataphysik, die Beschäftigung mit Jarry, den Surrealisten, ihren Vorläufern und ihren Schülern, insbesondere Boris Vian, der mich lehrte, möglichst immer an das zu denken, woran andere gerade nicht denken. Und wichtig war, dass ich durch Jarry meine entscheidenden Lehrer und Förderer fand: Walter Höllerer, François Lachenal und Carola Giedeon-Welcker.