telling a work of art /
Arbeiten die man sich erzählen kann
an e-mail project by Karin Sander
Betreff: AW: telling a work of art
Datum: Mon, 22 Apr 2019 21:55:00
Von:
Guido Hager
An:
Karin Sander
MORTADELLA von Christoph Hänsli
Bei einem Abendessen frage ich den Gastgeber, an was für einem Werk er momentan arbeite. Er male sich grad durch eine Mortadella. Eine Wurst, aufgeschnitten in 166 Scheiben, hinten und vorne gemalt: 332 Kunstwerke. Ausgeführt in Öl/Acryl auf Papier, montiert auf Karton. Das Fleisch zweifarbig abstrakt gehalten, jede Verschiebung der weissen Fettstücke von Scheiben-Vorderseite zur Rückseite in ihrer verändernden Form festgehalten, und auch die Veränderung jener Zentelmillimeter, die das Schneidemesser wegnimmt und für sich behält. Einzig die Pfefferkörner sind naturalistisch gemalt. Wie Sternschuppen an einem Firmament kommen und gehen sie. Mit einem Kosmos haben das Werk von Christoph Hänsli nicht nur John Berger in seinen Texten, sondern auch Juerg Judin und Pay Matthis Karstens im Werkkatalog verglichen.
Für mich war an jenem Abend klar, dass ich MORTADELLA unbedingt sehen möchte. Im Atelier zeigt mir später der Künstler eine Abfolge von einigen Scheiben, stellvertretend für das ganze Werk. Ich muss es haben.
Das Werk von 2006/2007, das in 15 Monaten intensiver Malerei entstand, kommt in mein Zürcher Haus. Es füllt ein Wohnzimmer, vier Wände auf 7 Reihen. Oben links beginnt die Wurst mit dem einen Endstück, unten rechts hängt das andere. Der Künstler stellte sich vor, dass die Kartons auf Leisten stehen und an der Wand anlehnen, ohne Rahmen und Glas, flüchtig und leicht. Mir ist das zu heikel, ich lasse sie rahmen, damit der Staub nicht auf die Oberfläche fällt und damit das Museumsglas das Restlicht filtert.
2012 wird das Werk in der Galerie Judin in Berlin gezeigt. Hier, auf einer grossen Wand, wirkt es ganz anders, kompakter übersichtlicher, als in meinem Raum auf vier Wände verteilt. Grossartig! Nach der Ausstellung kommt es zurück nach Zürich und wird wieder aufgehängt, nicht lange, denn kurz danach lasse ich das Haus restaurieren. Im fertig restaurierten Gebäude werden wieder, im gleichen Wohnzimmer, 664 Nägel eingeschlagen und das Werk auf 7 Reihen zwischen Boden und Decke platziert. Die Wandfarbe ist wieder warm rötlich, aber nicht in Konkurrenz zum Fleisch der Mortadella. Dann der plötzliche Kauf eines Schlosses auf dem Land und dadurch erneute Hängung der Mortadella in einem Kabinett, die Wände neu in einem wässrigen Grünblau gehalten. Der Raum ist etwas kleiner, dafür höher und die Wurstscheiben kommen auf 8 Reihen in der Höhe. Der Boden ist ein 120 jähriger Eichen-Fischgrat-Parkett, die Decke lasse ich ebenfalls von Christoph Hänsli als Künstlerdecke in handgefertigtem Stuck anlegen: Ravioli kreisen um das Zentrum mit einer Hängeleuchte.
Ich sitze und schreibe in diesem Raum mit den 332 Wurst-Scheiben an den Wänden, ca. 120 Ravioli an der Decke und dem Eichenparkett. Das Kabinett ist spärlich möbliert: 2 Josef-Hoffmann-Fauteuilles mit Tisch in verwaschenem Weiss (Originalfarbe), eine Messing-Jugendstil-Leuchte und ein englisches Historismus-Beistelltischen, bemalt mit einer Szene: ein Bauer präsentiert einem Abt / Bischof einen Hirsch und andere gejagte Tiere, der Würdenträger hält einen Brief in der Hand, eine Rechnung? Ein Schuldschein? Ein Ablass?
Dieser Raum in dem ehemaligen fürstbischöflichen Jagdschloss ist einer meiner Lieblingsräume. Relativ klein, neben dem Festsaal mit seinen opulenten Stuckaturen von 1750 gelegen, mehr ein Durchgangszimmer als ein Aufenthaltsraum, in dem das Weltliche sich mit dem Kosmischen verbindet. Obwohl der Raum den Anschein macht, er sei leer, ist er für mich der dichteste Raum im ganzen Gebäude. Dicht deshalb, weil er nicht ablenkt. Dem Besucher, der Besucherin fällt beim Betreten des Raumes nicht auf, was da hängt. Auf den ersten Blick ist es Farbe, dann wirkt es wie eine Tapete. Zurückhaltend, ja bescheiden und doch allgegenwärtig: die Wurst. Auf den zweiten Blick glaubt man kaum, was man sieht: das Abbild einer bekannten Sache, einer MORTADELLA, die sich mit jeder Scheibe verändert, und doch immer gleich bleibt. Und dabei stupende Malerei ist.
Text: www.christophhänsli.ch
Christoph Hänsli: Mortadella
Text by John Berger
210 × 295 mm
380 pages, hardcover
332 colour ill.
Published by Edition Patrick Frey, 2008
ISBN 978-3-905509-71-7
Christoph Hänsli: Corpus Haenslianum
Edited by Juerg Judin and Pay Matthis Karstens
Texts by Ulrike Vedder, Erik Porath, John Berger, Pay Matthis Karstens and Juerg Judin
208 × 295 mm
352 pages, hardcover
849 color ill.
Published by Hatje Cantz, 2018
ISBN: 978-3-7757-4493-5