telling a work of art /
Arbeiten die man sich erzählen kann
an e-mail project by Karin Sander
Betreff: telling a work of art
Datum: Sun, 14 Apr 2019 16:30:00
Von:
Jeanine Meerapfel
An:
Karin Sander
Das erste Bild: Steinfließen. Schwarzweiß.
Das Bild steht lange.
Dann wird Wasser darüber geschüttet.
Das Wasser verteilt sich über das Bild.
Nun eröffnet sich die Bedeutung: Der Boden wird gescheuert.
Die Kamera geht hoch: Eine Frau mit Schrubber und Eimer entfernt sich.
Alles in einer ruhigen Einstellung.
Es geht um den Film „Roma“ von Alfonso Cuarón.
„Roma“ hieß das Viertel, in dem Cuarón in Mexiko aufgewachsen ist.
Es ist ein autobiografischer Film, der von der Erinnerung und den Gefühlen des Autors lebt. Seine Authentizität liegt in der Präzision der Beschreibung, in der Genauigkeit der Bilderzählung.
Dieser Film beinhaltet alles, was ich am Film mag.
Zuerst: die Haltung.
Jedes Bild, jede Einstellung, zeigt eine klare Haltung.
Das Dienstmädchen bekommt alle Großaufnahmen.
Den Rest der Familie sehen wir eher in Totalen.
Das Dienstmädchen bekommt die Bild-Aufmerksamkeit, die in den serienfabrizierten Filmen nur den Stars, den glamourösen Hauptfiguren gehört.
Sie aber ist nur eine Indigene, eine, die man meist in den Ecken der Filminszenierungen mitbekommt.
Sie aber ist die Hauptfigur.
Wieder: die Haltung. Hier die Erzählhaltung.
Völlig unsentimental erzählt Cuarón in klaren, ruhigen Bilder die unscheinbare, unspektakuläre Geschichte der alltäglichen Ausbeutung einer Bediensteten. Die junge Mixtekin Cleo arbeitet als Kindermädchen und Haushälterin für eine siebenköpfige Familie der „Middle-class“ in Mexiko-City. Sie putzt, kocht, wäscht, kümmert sich um die Kinder und auch um den Hund, der immer bellt und in die Garage scheißt.
Cleo wird von einer ersten Beziehung schwanger. Als sie in einem Möbelgeschäft ein Kinderbett kaufen will, folgt die Kamera den Geräuschen einer Demonstration, schwenkt zum Fenster: auf der Straße werden protestierende Studenten von zivil gekleideten Paramilitärs angegriffen. Cleos Fruchtblase platzt, die Fahrt ins Krankenhaus verzögert sich, das Baby wird tot geboren.
Und wieder: die Haltung. Diesmal die politische Haltung: hier wird im Hintergrund die Geschichte des Fronleichnam-Massakers aus dem Jahr 1971 erzählt, bei dem Dutzende Menschen im Rahmen von Studentenprotesten von einer paramilitärischen Gruppe getötet wurden. Es war die Zeit von Mexikos „Guerra Sucia“ (schmutziger Krieg), die Zeit des Verschwindenlassens, der Ermordung und Folterung von Tausenden von Linken, militanten Arbeitern und Bauern.
Das ist in Mexiko nicht vergessen worden. Und Cuarón, der zu der Zeit ein Kind war, erinnert daran, und macht einen Film, der ein Glaubensbekenntnis zum Autorenfilm ist, und gleichzeitig eine Liebeserklärung an die eigene Erinnerung, die eigene Geschichte.
Ich liebe diesen Film.
Jeanine Meerapfel
14. April 2019.