telling a work of art /
Arbeiten die man sich erzählen kann
an e-mail project by Karin Sander
Betreff: Re: telling a work of art
Datum: Fri, 19 Apr 2019 9:35:00
Von:
Marcel Odenbach
An:
Karin Sander
In meiner Jugend und später als Künstler habe ich viele Phasen und Vorlieben durchlebt. Da gab es Giovanni Bellini: den Dogen von Loredan, die Fresken im Veneto von Veronese, immer wieder die Selbstportraits von Rembrandt, jahrelang Goya und James Ensor. Auch das Bild mit der Lokomotive von Turner und als Kölner unser Spargelstillleben von Manet.
Vor allen Dingen gab es eine Familienikone: die Ansicht von Delft von Vermeer, zu der wir fast jährlich mit meinen Großeltern nach Den Haag ins Mauritshuis gemeinsam pilgerten.
Eigentlich habe ich erst sehr viel später verstanden, warum mein Großvater es zum bedeutendsten Kunstwerk der Welt erkoren hatte. Als Kind hat mich natürlich die Genialität von Licht, Abstraktion und Stimmung wenig gefesselt. Weder das Motiv einer Stadtansicht empfand ich beeindruckend, noch die Intimität des Museums aufregend genug, um mich auf die Reisen dorthin zu freuen.
Schon als Kind schien mir eine Ansammlung von Bildern und das Leben mit alten Gemälden nichts Außergewöhnliches, denn es war mir vertraut. Hatten doch meine Großeltern ihre im ständigen Schlummerlicht dahin dämmernden Räume voller Bilder hängen. Es gab kaum eine freie Stelle, die nicht von einem schweren Goldrahmen bedeckt war. Da kann ich mich an spielende Schlittschuhläufer von Jan Breughel oder ein weißes Pferd auf einem Hügel von Ph. Wouwermann erinnern; liebliche Frauenportraits von Kaulbach und Knaus, Spaziergänger im Gebirge von Spitzweg, Kartenspieler und bärtige Männer, Tanzsäle und Kirchen und, und, und. Nach der Aufteilung des Nachlasses meiner Großeltern haben sich viele der scheinbar wertvollen Gemälde, als Fälschungen herausgestellt. Eigentlich zum Glück, denn so blieben die meisten im Besitz der Familie.
Innerhalb dieser Sammlung gab es ein Gemälde, das mir damals Respekt, ja sogar Angst eingeflößt hat. Es war ganz anders als der Rest der Bilder und es war für mich selbstverständlich das Meisterwerk. Ich konnte meinen Blick von dem Geschehen auf dem Bild nicht abwenden, obwohl mich die Darstellung gleichzeitig immer wieder erschaudern ließ. Es faszinierte mich, denn es war voller erkennbarer Details, die ich immer wieder von Neuem entdecken konnte und die meiner Fantasie freien Lauf ließen. Eine dankbare Ablenkung für ein Kind noch ganz ohne Fernsehen und Gameboy.
Damals empfand ich es als verhältnismäßig groß, ob das an der Fülle von Information oder an meiner kindlichen Größe lag, das kann ich nicht mehr beurteilen. Ungewöhnlicher Weise hatte es einen goldenen Himmel und dieser machte es für mich besonders wertvoll. Auf der anderen Seite blieb mir dieses Stilmittel aber unverständlich, bei der sonst so eindeutigen Darstellung. Den Künstler kannte man nicht, es war Kölner Schule, wie mein Großvater immer wieder erwähnte und diese Zuordnung beeindruckte mich damals mehr als jeder andere Künstlername. Es war eine Station aus einem Zyklus von Bildern, die den Kreuzgang Jesu Christi darstellte. Mein Ururgroßvater hatte sie in Niederösterreich in seinem Landhaus als Stalltüren verkleidet wiederentdeckt. Sie wurden so wahrscheinlich vor dem Bildersturm im 16. Jahrhundert gerettet. Jetzt hing das letzte, das den zweiten Weltkrieg überstanden hatte, im Wohnzimmer meiner Großeltern und rettete mir die langweiligen Sonntagnachmittags-Besuche. Ich habe es übrigens seit dem Tod meiner Großeltern 1972 nicht mehr wiedergesehen.
Es ist die Darstellung der 5ten von insgesamt 14 Kreuzwegstationen. Simon von Kyrene, ein einfacher Feldarbeiter aus lybischer Abstammung, befand sich auf dem Weg nach Hause, als ihn ein Trupp Römer zwang, das Kreuz des verurteilten Messias Jesus von Nazareth von der Stadt zum Berg Golgatha zu tragen.
Wie weit Simon das Kreuz zu tragen hatte, bleibt in der Bibel unbeantwortet und das Johannes-Evangelium erwähnt ihn gar nicht.
Auf dem Bild war er im Verhältnis zu den anderen Figuren ganz klein und alt, vielleicht empfand ich deshalb so viel Sympathie und Mitleid für diesen Mann. Er muss mich damals unglaublich beschäftigt haben, denn an Jesus Christus, der bestimmt die Spuren seiner Tortur am ganzen Körper sichtbar getragen hat, erinnere ich mich nicht mehr so genau. Vor allen Dingen blieben mir natürlich die schrecklichen und brutalen römischen Soldaten, in metallenen Rüstungen, mit Schwertern und Lanzen noch lange bewusst. Auch die in den Stilen der Entstehungszeit getragene Kleidung, mit den komischen Schuhen und den geflammten Hosen könnte ich noch detailliert beschreiben.
Das Bild hat mir vor allen Dingen in sehr klarer und einfacher Weise die erste Vorstellung von Gut und Böse im christlichen Sinne vermittelt.
Eine Darstellung, die mit den unterschiedlichsten Emotionen aufgeladen ist; damals vielleicht eine nutzvolle Malerei, denn sie versuchte dem Leid und der Trauer darüber eine Vorstellung zu geben.
Durch das Gemälde eilte meine Fantasie quasi meinem Schicksal voraus. Wahrscheinlich habe ich von diesem Bild sehr viel für meine eigene künstlerische Arbeit gelernt: den Aufbau einer dramatischen Erzählung, vielleicht sogar das filmische Sehen und den Reiz an der Spannung; meine Vorliebe für Symbole und die ständig wiederkehrende Thematisierung von Gewalt; bestimmt meine fast neurotische Leidenschaft für die Matthäuspassion von Bach.
Auf jeden Fall hat für mich damals der Schock des Bildes im Sinne Susan Sontags kein Verfallsdatum gehabt.
Marcel Odenbach, März 2010