telling a work of art /
Arbeiten die man sich erzählen kann
an e-mail project by Karin Sander
Betreff: Re: telling a work of art
Datum: Mon, 27 May 2019 13:20:00
Von:
Jutta Brückner
An:
Karin Sander
Eine Betrachtung zu Nativité von Georges de La Tour
Zwei Frauen und ein Kind. Eine ältere und eine jüngere sehen auf das Wickelkind herunter, das auf dem Schoß der jüngeren liegt. Es sind drei Generationen, Großmutter, Mutter, Enkelkind. Das Licht der einzigen Kerze ist abgeblendet durch die Hand der älteren, es fällt auf das in weiße Tücher gehüllte Neugeborene, das wie eine Puppe wirkt. Im ersten Blick wusste ich nicht, ob dieses Kind lebendig ist oder tot, diese Zeremonie eine Geburt oder Sterbezeremonie. Das kleine Bild, das ich in den Händen hielt, als ich vor einem Bouquinier am Seineufer in Paris stand, wirkte so echt, dass ich fast das Gefühl hatte, es sei
aus einem Museum gestohlen worden. Dass es so etwas gibt wie Fotodruck auf Leinwand, wusste ich nicht. Ich wusste nur, dass ich noch nie etwas Vergleichbares gesehen hatte und ich konnte es keiner der Epochen, Stile oder Schulen zuordnen, von denen im Kunstunterricht die Rede gewesen war. Auf der Rückseite des Bildes stand nur Nativité. Ich war 17 Jahre alt, vollkommen übermüdet nach einer Zugfahrt von 14 Stunden mit eingeklemmten Beinen in einem überfüllten Abteil, ich war erst am Morgen in Paris angekommen, war zum ersten Mal in dieser Stadt mit einem unklaren Verlangen und ich
kaufte das Bild sofort vom Geld meines Mittagessens.
Heute weiß ich, was mir damals egal war, das Bild ist von Georges de La Tour. Seit damals begleitet es mich, es hängt inzwischen neben einem anderen, einem nur mit einem Lendentuch bekleideten Heiligen oder Schäfer, das ich im Museum von Vic-sur-Seille, dem Geburtsort von de La Tour, gekauft, aber im Katalog seiner Werke nicht gefunden habe.
Man scheint sich nicht sicher zu sein, ob er es gemalt hat. Alles um diesen Maler herum ist unsicher. Man zählt ihn zu den französischen Barockmalern des 17. Jahrhunderts oder auch zur Schule des Chiaroscuro, die sich durch starke Hell-Dunkel-Kontraste auszeichnet. Aber selbst heute noch ist so gut wie nichts über ihn bekannt. Durch die Jahrhunderte war er
völlig vergessen und als Maler des Bildes Nativité, das heute im Museum von Rennes hängt, wurde mal ein Niederländer, mal ein anderer Franzose, mal ein Spanier angenommen. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die Autorschaft von de La Tour sicher festgestellt. Es war ein Bild ohne sicheren Schöpfer, sozusagen aus der Anonymität heraus entstanden. Das
Bild, das mich ansah, war ein herrenloses Bild.
Das erste, was mich in Bann schlug, war das Licht. Das blendende und konzentrierte Licht. Licht ist hier nicht die Bedingung für alle Sichtbarkeit, sondern ein eigenes Auge, das einen kleinen Bereich der Fülle durchdringt, die unseren Augen verschlossen bleiben wird. Wir sehen nur, was dieses Licht sieht. Und weil die Lichtquelle im Innern des Bildes selbst ist, bekommt der Raum eine fast plastische Dimension, die zweidimensionale Leinwand wird dreidimensional. Diese Art der Lichtsetzung fand ich später in einigen Filmen von Andrej Tarkowskij wieder, auch bei ihm gibt es wie bei Goerges de La Tour eine Hand, die vor dem Schein des Feuers durchsichtig wird.
Das Wort Nativité meint nicht jeden Geburtsakt, sondern die Geburt des Jesus von Nazareth. Deshalb kann man die beiden Frauen als die Jungfrau Maria und deren Mutter Anna identifizieren und es als eine neue Interpretation des weit verbreiteten Motivs der Anna selbdritt ansehen. Ich, die damals 17jährige, wusste nicht, dass es sich hier um eines der ikonischen Sujets der Christenheit handelt. Hätte ich es geahnt, hätte mich dieser religiöse Bezug wohl eher abgeschreckt oder zumindest ratlos gelassen. Denn der Maler tut alles, um einen solchen Bezug vergessen zu machen. Die beiden Frauen sind einfach und alltäglich gekleidet im Stil der Barockzeit. Es gibt weder Stall noch Kuh noch Esel, auch keinen Josef und keine Heiligen aus dem Morgenland, die anbetend um ein rosiges, strampelndes Baby herumstehen, das umgeben ist vom Glorienschein des künftigen Königs und Weltenherrschers. Es ist irgendein Kind, das da auf dem Schoß irgendeiner jungen Frau liegt, die mit ausdruckslosem Gesicht auf etwas heruntersieht, das man ihr in die Arme gelegt hat. Sie hält es, wie eine junge Mutter das tut, der man gerade beigebracht hat, wie man ein neugeborenes Kind zu halten hat. Es wirkt, als könne sie gar nicht fassen, was hier auf ihrem Schoß liegt, wie betäubt von dem Gedanken, dass das hier Sinn und Zweck ihres Lebens sein soll. Unser durch das Licht gelenkter Blick fällt auf das kleine weiße Bündel im Zentrum des Bildes, auf dieses Kind, um das sich alles dreht. Es ist in Tücher und Binden eingewickelt bis zur völligen Bewegungslosigkeit, so wie man es zu jener Zeit mit den Neugeborenen und Kleinkindern machte, um sie ruhig zu stellen. Und dieses Neugeborene mit seinem ungeformten Gesicht, völlig realistisch gemalt, weiß selbst nichts von dem, was sein Schicksal oder seine Sendung sein wird. Wohl deshalb wird das Bild auch heute noch manchmal Le Nouveau Né, das Neugeborene, genannt.
Georges de La Tour hat eine tief säkulare Deutung der Menschwerdung Gottes gemalt und damit die Essenz des christlichen Glaubens in den Alltag geholt. In dieser Verweltlichung eines religiösen Motivs vereint sich der Abbildrealismus der säkularen Kunst mit der Wirklichkeitsentgrenzung aller religiösen. Das Bild steht gleichzeitig in der Zeit und außerhalb der Zeit, tief im bürgerlichen Alltag, der in ihm stillgestellt ist, und es reicht über diesen Alltag hinaus. Die beiden Frauen sind gleichzeitig real und Ikonen, sie sitzen in diesem Raum, als seien sie für die Ewigkeit gebannt, regungslos. Die Ikonenhaftigkeit kommt ihnen
beiden zu, Maria, die Mutter Gottes, ist nicht hierarchisch herausgehoben. Im Gegenteil. Das Licht erleuchtet nicht nur das Kind, sondern es schafft eine Verbindung zur Brust der älteren Frau, die eigentlich keine Milch mehr haben dürfte, diese Nahrung und Quelle des Lebens über Generationen hinweg war, bevor man industriellen Ersatz dafür fand. Hier ist
nicht die reale Mutter gemeint und auch nicht die vergöttlichte Maria, die Himmelskönigin, die hier im Halbdunkel sitzt, sondern das Mütterliche, selbst, ohne das die Schöpfung nicht existieren kann. Mir ist heute nach vielen Jahren des Zusammenlebens mit diesem Bild so, als würde Georges de la Tour hier eine andere Geschichte der Schöpfung erzählen. Subtil tritt neben die uns bekannte, in der der Vater am Anfang aller Dinge als Schöpfer das Wort Fleisch werden lässt, eine zweite, die der Frauen, die über Generationen das Leben weiter getragen haben. Ich weiß nicht, ob die Kontroverse vom Konzil in Ephesos, in der es darum ging, ob nur der Mann zeugt, oder nicht auch die Frau, ob also Maria nur Mutter des Menschen Jesus ist oder auch Mutter des Gottes Christus, in der Zeit des Georges de La Tour noch eine Rolle gespielt hat. Für mich ist es ein Bild über weibliche Schöpferkraft. Wie auch immer, meine blinde, jugendliche Faszination an diesem Bild hat bis heute angehalten. So wie es Lebensmenschen gibt, gibt es auch Lebensbilder.