telling a work of art /
Arbeiten die man sich erzählen kann
an e-mail project by Karin Sander
Betreff: Wilhelm Lehmbruck
Datum: Wed, 2 Jan 2019 11:20:00
Von:
Michael Schoenholtz
An:
Karin Sander
Plastiken durch Weglassen
Obwohl schon während der Schulzeit mir Lehmbrucks Werk durchaus - wenn auch nicht in allen Teilen - bekannt war, so erfuhr ich doch erst - kaum glaublich - am Ende dieser Zeit, daß das Geburtshaus des Bildhauers und Plastikers nur einige hundert Meter von der Stelle stand, an der ich aufgewachsen war. Erfuhr es erst, als der skandalöse Beschluß gefaßt wurde, der Schule, an der ich lernte, den Namen des größten Sohns Meiderichs nicht zu geben, aus Gründen der Moral, worin sich die beiden ortsansässigen Konfessionen so selten wie nie einig waren. (Lehmbrucks "anrüchiges" Leben, sein "anrüchiger" Beruf, sein noch "anrüchigeres" Ende!) Ein fromm gewordener Naturwissenschaftler paßte da besser. So unbekannt, ja uninteressant mir Lehmbrucks Leben war, so bekannt, so interessant war mir sein Werk damals.
Sollte ich die Gründe dieses Interesses nennen, so habe ich Schwierigkeiten: In wechselnden Phasen, Zeiträumen, galt das Interesse immer wechselnden Aspekten.
In einem merkwürdigen Gegensatz zu seinen Zeitgenossen hat Lehmbruck seinen Arbeiten seltsam einfache, "unliterarische" Titel gegeben. Werden bei den Zeitgenossen auch anekdotische, soziale Hintergründe im Titel meist mitgeliefert - damit auch in einem bestimmten historischen Zusammenhang gebracht -, vermeidet dies Lehmbruck fast immer.
Als Student habe ich dann den "Widerspruch" entdeckt zwischen dem Titel des Werks und dem, was es eigentlich "tut". Oftmals verweisen ja Lehmbrucks Titel auf Tätigkeiten, auf das Ausführen einer - wenn auch einfachen, nachvollziehbaren, fast allgemeinen - Handlung. Aber dennoch handeln die Plastiken nicht: Der "emporsteigende" Jüngling steigt ebensowenig empor, wie der "Gestürzte" stürzte oder gestürzt wurde. Ebenso wie das Emporsteigen im Verharren begriffen, keinerlei weitere Bewegung zu erwarten ist, ebenso wenig hat der "Gestürzte" sich jemals anders befunden als eben in dieser Haltung. Hier gibt es keinen Handlungsbedarf, kein Vorher, kein Nachher, hier ist alles Zustand. Nun passiert das Seltsame: Das Verharren, Erstarren, In-Sich-Zurück-Gehen - eigentlich und selbstverständlich verbunden mit einer Art von "passiver" Räumlichkeit - die Plastiken werden auf unerhörte Weise raumgreifend, raumbestimmend. Nicht in Bewegung ist die Plastik, aber sie zwingt den Betrachter, sich beim Betrachten um sie herumzubewegen. Es gibt da keine "Schokoladenseite", die ein umfassendes Bild von einem Punkt aus vermittelt und die zum Verweilen auffordert. Ein schärferer Gegensatz zum zweidimensionalen Bild ist kaum denkbar.
Am Beispiel der Plastik "Der Gestürzte" wird mir das immer wieder besonders deutlich vor Augen geführt: Ein Titel, der Hochdramatisches verspricht; nichts davon in der Formulierung der Plastik selbst. Mit äußerster Rigorosität wird die Figur unter das Joch der Symmetrie, der Architektur gezwungen. Jede Bewegung festgenommen, durch symmetrische Anordnungen wird Ruhe, Starre bewirkt. Menschlich-Fleischliches ist gänzlich entfernt, der Körper wird zur entpersönlichten, verallgemeinerten, anonymen Figuration. Und als solche, reduziert auf ein Gerüst, das nurmehr allgemeine Proportionen des menschlichen Körpers aufweist (in jedem Detail aber vor Plastizität fast birst!), umfaßt sie Raum, birgt sie Raum, fesselt sie Raum, bestimmt sie Raum in einer Weise, wie Plastik oder Skulptur es selten vermocht haben. Die Story, die Anekdote, das Drama - alles was der Titel verheißt - sie vermögen das nicht, das tut allein die von all dem emanzipierte, dreidimensionale Formung, die zurückfindet - so will es mir scheinen - zu ihrer angestammten Nähe zur Architektur. Die Lehmbruck'sche Figur ist deshalb nicht etwa Zitat, das sich auf eine vergangene Epoche bezieht, sie ist lediglich aus dem Geist der großen Tradition einer architekturverbundenen, ja architektonischen Plastik und Skulptur entstanden.
Was wie "Rückschritt" aussieht, ist tatsächlich Rückbesinnung, Korrektur fast, die aus der Archaik ihre Kraft bezieht.
Ein weiteres Faszinosum: Fast immer - mit wenigen Ausnahmen - hat Lehmbruck modelliert, im antragenden Verfahren gearbeitet. Trotzdem will sich immer wieder der Eindruck herstellen, als habe Lehmbruck seine Formulierungen durch Reduzieren bis zum äußersten Möglichen, sozusagen durch ein "subtrahierendes", wegnehmendes, damit aber skulpierendes Verfahren erreicht.
Ist auch dies ein Grund für das Interesse des Steinbildhauers an diesem Plastiker?
Michael Schoenholtz, 6.8.1987
Erschienen in: Wilhelm Lehmbruck (1881-1919) - Plastik, Malerei, Graphik: aus den Sammlungen des Wilhelm-Lehmbruck-Museums der Stadt Duisburg. Selbstverlag, 1987, S. 171ff.