telling a work of art /
Arbeiten die man sich erzählen kann
an e-mail project by Karin Sander
Betreff: telling a work of art
Datum: Fri, 17 May 2019 19:20:00
Von:
Jens Harzer
An:
Karin Sander
Rolf Boysens erster Auftritt als König Lear
Die Bühne- ein Verschlag aus alten Türen, Filz und ineinander vernagelten Brettern.
Zehn Minuten bis zum Vorstellungsbeginn. Man blickt in diese schon verloren gegangene Welt. Immer wieder treten vereinzelt Menschen im Hintergrund auf, sie schauen kurz nach rechts und links, verharren, kontrollieren, warten, verschwinden wieder. Stille. Dann wieder andere, vereinzelt, dann mehrere zusammen. Dann wieder niemand. Dann kommen immer mehr, die Hektik wird grösser, sie scheinen jemanden zu erwarten. Dann wieder alle weg, dann wieder andere, dann sind alle verschwunden. Dann das letzte Klingelzeichen, ein einzelnes Klingeln, das in die Knochen fährt. Die Türen der Münchner Kammerspiele werden alle auf einmal geschlossen, sie werden alle gemeinsam ins Schloss gedrückt. Plötzlich ist der Raum verriegelt, in diesem Moment ist Bühnenhaus und Zuschauerraum in eins gefallen.
Kein Entkommen. Stille. Niemand da, niemand kommt, alles scheint bereitet, oder ist alles schon zu Ende?
Kein Beginn mehr, kein Ende mehr. Stillstand. Steady state. Die Bühne gehört nur noch sich selbst.
Der Zuschauer blickt ins vollkommen Offene. Die Erwartung verliert sich in Leere.
Dann, ohne jede Ankündigung, aus dem Nichts heraus, plötzlich- in unendlicher Ruhe und vollkommener Einsamkeit erscheint KÖNIG LEAR.
Einen langen schweren Mantel auf den Schultern. Er tritt in den Bretterverschlag hinein. Schritt für Schritt. Der Kopf führt den restlichen Körper, vielleicht zwanzig
Schritte bis an die Bühnenkante.
ROLF BOYSEN.
Vorne angekommen schaut er in den Saal. Völlig eingespannt in den Kokon des Kommenden. Schmale Augen, für den Ausdruck offenstehende Membran. Es ist alles da, es ist sich alles bewusst, es ist alles schon geschehen, es ist ALLES aufgehoben in diesem Blick. Es zittert die Zeit: König Lears Zeit, Rolf Boysens Zeit, des Zuschauers Zeit, eingefasst in diese ungreifbare Verdichtung.
Es vergehen vielleicht zwanzig Sekunden.
Dann, urplötzlich dreht sich der alte Körper Lears, eine jähe Schrecksekunde; der schwere Mantel, der wie festgewachsen schien an den Schultern, fällt hinab, ein leichtes Unterkleid erscheint. Mit wehendem Schritt eilt Lear dem Ausgang zu, zurück ins Nichts.
Wieder Stille. Nichts, wieder ist der Zuschauer allein.
WAS WAR DAS? WAS HABE ICH ERLEBT?
Es vergehen vielleicht wieder zwanzig Sekunden.
Doch dann erscheint König Lear erneut, mit seinen Töchtern und den Schwiegersöhnen und seinem Narren im Gefolge, mitten im Konflikt, rasend, schnell, atemlos. Die Stille gänzlich verloren, ohne Schutz den Begierden seiner Familie ausgesetzt; nicht mehr mit sich, nicht mehr nur er und das Auge und die gedehnte Zeit.
Geteilt, abgelenkt, unsicher, verlegen, verschreckt. Einsam inmitten seiner Kinder.
Und so begann das Stück. Ein unrettbares, unaufhaltsames Jetzt.