telling a work of art /
Arbeiten die man sich erzählen kann
an e-mail project by Karin Sander
Betreff: Text im Anhang
Datum: Thu, 18 Apr 2019 20:45:00
Von:
Hans Neuenfels
An:
Karin Sander
Max Ernst: „Die Jungfrau Maria züchtigt das Jesuskind vor drei Zeugen"
Wenn ich vor 63 Jahren, als ich 15 Jahre alt und in der Pubertät war, das Bild von Max Ernst „Die Jungfrau züchtigt das Jesuskind vor drei Zeugen“ – gesehen hätte, wäre mir sicher nach einem ersten Schock ein befreiendes Begreifen gekommen.
Aber ich sah es damals nicht, und so irrte ich im dumpfen niederrheinischen Katholizismus herum, stieß mir den Kopf wund, fiel auf die Knie bis sie bluteten, zermarterte mir das Hirn über die Dreifaltigkeit und mein Herz raste.
Die Überzeugung, von einem ausgeklügelten Verführungsnetz der menschlichen Könnerschaft im kirchlichen Gefüge gefangen zu sein, hatte mich schon erfasst, jetzt aber begannen sich quälende Zweifel an den göttlichen Gesetzen einzuschleichen.
Das alles geschah im Jahre 1956. Es war die Hölle und noch nicht einmal das Fegefeuer in Sicht.
30 Jahre zuvor, im Jahr 1926, hatte Max Ernst sein Bild gemalt. In einer Zeit, als die Kirche mit der Politik innige Hochzeiten feierte oder zumindest raffinierte Liaisons unterhielt.
Auf dem Schoß der Jungfrau Maria, der mit einem dunkelblauen Stoff – ich könnte mir Samt vorstellen – straff um einen Teil ihres Unterleibs gewickelt ist, liegt mit der Rückseite nach oben bäuchlings das Jesuskind. Maria sitzt breitbeinig auf einem dunkelbraunen, fast schwärzlichen Holzklotz, der auf einem Podest steht. Sie scheint mit ihm verwachsen zu sein, was durch den weit bis zu ihren Füßen gespannten Samt betont wird. Ihre rechte Hand hat sie nach oben gestreckt und scharf im Ellbogen nach hinten abgeknickt, um den Schlag zielsicher setzen zu können, den linken Unterarm legt sie ohne jede Anstrengung über den Rücken des Kindes. Unwillkürlich muss ich an eine perfekte athletische Übung denken und daran, dass ihre Schenkel wohl stark sind. Ihr Kleid ist leuchtend rot und liegt eng am Körper. Es zeichnet ihre Brüste ab, doch keinesfalls kokett, sondern es markiert sie wie ihre anderen Körperformen. Ihre Haare sind dunkelbraun, in der Mitte gescheitelt und liegen eng am ovalen Kopf, über dem ein sehr zarter, weißgelblicher Reifen schwebt, ihr Heiligenschein.
Kein Funken Wärme, an Mütterlichkeit nicht zu denken, ja, nicht einmal die Anzeichen einer Teilnahme. Das pure Geschehen. Nichts als geballte Kraft. Im Raum stehende Spannung. Was ist da los? Wo finde ich eine Erklärung? Ich muss sie suchen! Ich werde sie finden!
Ich trete ganz nah an das Bild. Ich suche den Blick dieser jungen Frau. Ich sehe in ihre Augen. Und da geschieht es. Ihr Blick ist starr. Er ist nicht auf das Gesäß des Kindes gerichtet. Er hat überhaupt kein Ziel. Er geht ins Leere. Aus der Abwesenheit ins Nichts. Es sind die weit aufgerissenen Augen einer Überforderung. Mechanisch. Automatisch. Fremdgesteuert. Wie von einem anderen Willen instrumentalisiert. Verloren. Ausgesetzt. Allein gelassen. Ein entseelter Ausdruck, als ahne sie, die Jungfrau, die Zuchtmeisterin, nicht nur was ihr Tun in der Tradition der Malerei, sondern im universellen Empfinden überhaupt bedeuten und auslösen würde: die Rolle der immer liebenden Mutter und des ewig unschuldigen Kindes, dieses seit Jahrhunderten beschworene Verhältnis eines Wunschzustandes von jedermann in aller Welt, ist absolut zu Ende, ist unwiederholbar zerstört.
Gibt es einen Anlass? Was kann der Auslöser gewesen sein? Sehen wir uns das Kind an. Keinesfalls liegt es hilflos an der Brust einer versonnenen Mutter. Aber es wehrt sich auch nicht mit Händen und Füßen, strampelt nicht. Seine Haare sind golden-blond, straff gekämmt und auch die Locken, die den Kopf umlaufen, fest angelegt. Vom Gesicht sieht man kaum etwas. Es hat seinen ganzen Körper der Mutter hingestreckt. Es muss kein Einverständnis sein, aber jedenfalls ist eine gewisse Einsicht da für etwas bestraft, gezüchtigt zu werden, das den Rahmen sprengte. Sein linker Arm mit vier – wieso vier? – sichtbaren Fingern, die sich leicht krümmen, scheinen nach etwas zu greifen. Vielleicht nach dem Heiligenschein, der ihm vom Kopf fiel und der rechts im Bild schon fast auf dem Boden liegt, und worin der Maler mittig seinen Namen hinterlassen hat. Vielleicht ist es auch die Reaktion auf einen gehabten oder zu erwartenden Schmerz. Seine linke Gesäßbacke ist mehr, seine rechte weniger gerötet. Vom Körper her ist das Kind, das ich eher schon einen kleinen Jungen nennen würde, ganz der Sohn der Mutter: Ein festes muskulöses Fleisch. Sicher spielen sie oft Ball zusammen, laufen, springen, trainieren. Ich unterstelle dem Jungen eine erstaunliche Selbstständigkeit, eine Neugierde, auch eine provozierende Natürlichkeit. Er könnte gefragt haben: „Mutter, bitte, erzähl mir etwas über die Unbefleckte Empfängnis! “ Ist sie da ausgerastet? Oder begann es harmloser. „Mutter, ist der Heilige Geist wirklich eine Taube?“ Oder aber war es grundsätzlicher, und er schrie: „Mutter, ich möchte nie Mensch sein, aber immer Gottes Sohn!“
Wir wissen es nicht. Doch dem Jungen ist manches zuzumuten, um die verzweifelte Aktion der Mutter zu verstehen. Dafür hat sich nicht nur der Maler Max Ernst ins Bild gebracht, sondern er hat seine Freunde, den Lyriker Paul Éluard und den Literaten André Breton als Zeugen hinzugezogen. Sie schauen links durch ein Fenster dem einmaligen Geschehen zu. Diskret, aber unbarmherzig genau, um uns davon zu berichten.
Hans Neuenfels