telling a work of art /
Arbeiten die man sich erzählen kann
an e-mail project by Karin Sander
Betreff: Aw: Telling a Work of Art
Datum: Sat, 22 Dec 2018 18:15:00
Von:
Thomas Lehr
An:
Karin Sander
Ein kurzer Blick auf alte weiße Männer
Der athletische Torso – gekrümmt, geschunden, mit abgerissenem Kopf, armlos, mit wie in Kniehöhe amputierten Beinen, ein kreisrundes Loch in der linken Schulter, wo sich der Marmor rötlich färbt wie von einer Schusswunde – sitzt im Besucherstrom der Vatikanischen Museen auf einem steinernen Block und einem steinernen Fell, geschützt von einem von vier Pfosten gehaltenen Seil, wie in einem Ring für Boxwettkämpfe. Jede Stelle des Torsos soll, wie wir seit längerem wissen, den Betrachter sehen. Deshalb könnte man sich fragen, welche Eindrücke die enorme kosmopolitische Masse von Europäern, Amerikanern und Asiaten mit ihren Kameras, Guide-Wimpeln, ihren Selfie-Stangen und flackernd rackernden Mobiltelefonen im Marmor hinterlassen hat. Was denkt die eingesperrte Kunst in den Showrooms einer alten klerikalen Macht, die beherrschen und kontrollieren und oft genug auch einsperren wollte, die sich der Kunst zu bedienen wusste, um ihre Ziele zu erreichen und nun Jahr für Jahr das schier unerschöpfliche Touristenreservoir einer freien oder wenigstens Reisefreiheit erlaubenden Gesellschaft duldet und lenkt, bedient und abschröpft, beschenkt und für sich zu gewinnen hofft?
Vor rund zweihundertsechzig Jahren vermeinte Winckelmann im dramatisch gekrümmten Torso ein Fragment des Herkules zu sehen. Im vatikanischen Belvedere, damals noch in der Freiheit des grünen Innenhofs, findet man auch die elegante Statue des Apoll, eine Marmorkopie der Bronze aus dem vierten vorchristlichen Jahrhundert, die Winckelmann für das perfekte antike Kunstwerk hielt. Seine These über die persönliche und politische Freiheit, die für die Entwicklung der großen Kunst der griechischen Antike nötig war, könnte man illustrieren, indem man zu ermitteln sucht, ob in den Vatikanischen Museen nun mehr griechische Götter und Heroen zu sehen sind oder Darstellungen und Plastiken der christlichen und biblischen Heilsgeschichte. Verhält sich die Kirche imperial, mit dem Gestus des Siegers – Theokratie sammelt Demokratie –, oder haben wir es vielmehr mit einem souverän-dekadenten Manöver zu tun, mit den Freiräumen des Kunstgenusses und Kunstsammelns, dem weltlichen Steckenpferd von Päpsten und Kardinälen, die den Fürsten ihrer Zeit keinesfalls nachstehen wollten?
In der Gunst unseres modernen – und gleichfalls vergänglichen – Zeitempfindens hat der versehrte Torso vom Belvedere den perfekten Apoll schon lange geschlagen. Es scheint, als wäre der athletische Oberkörper durch die wütenden Schwerthiebe einer eifersüchtigen höheren Macht verunstaltet, die seine Kraft und Schönheit nicht ertragen konnte. Der Torso wirkt menschlicher als der intakte Gott, seine Verstümmelung erinnert an die Qualen des Sisyphos oder des Tantalos. Mittlerweile hat die Kunstgeschichte den Zusammenhang der beiden Statuen neu geklärt. Sie stehen in einem zutiefst feindlichen Verhältnis zueinander. Anhand etlicher Indizien, dem Ansatz für ein Satyrschwänzchen etwa, oder der Entdeckung, dass der kopf- und armlose Held auf einem Pantherfell sitzt anstatt auf einem Löwenfell (das im Marmor zu unterscheiden, scheint mir eine recht winckelmännische Kunst), kam man zu dem Schluss, dass der Torso wahrscheinlich zu dem Satyr Marsyas gehört. Dieser ließ sich, nachdem er die Flöte der Athena gefunden hatte, auf einen Kunstwettkampf mit Apoll ein, Flöte gegen Kithara. Er verlor, als Apoll den taktischen Vorteil der bloß zu zupfenden Kithara nutzte und auch noch zu singen begann. Die Musen entschieden für den Gott. Als schlechter Gewinner hängte Apoll den Marsyas an eine Fichte und zog ihm die Haut ab – dem Torso im Belvedere scheint das noch nicht passiert, aber womöglich ist das Pantherfell schon ein Hinweis auf seine düstere Zukunft.
Fazit eins: Wer sich als Künstler zum Gott erhebt, dem wird das Fell über die Ohren gezogen – geschenkt. Interessanter ist Fazit zwei: Kunst ist nicht für die Götter gemacht, oder wer sich zum Gott oder Quasi-Gott erhebt, kennt keine Gnade mit dem Künstler. Das halte ich für einen politischen Umstand, der heute weiterhin aktuell ist, in Putins Russland oder Erdoğans Türkei, in Xi Jinpings China und bei etlichen so genannten Kunstfreunden der Herrscherklasse der arabischen Welt.
Thomas Lehr, Dezember 2018
(Ausschnitt aus dem im Frühjahr 2019 erscheinenden Aufsatz: Sehender Torso Belvedere – Bemerkungen zu Winckelmanns Gedanken über Freiheit und Kunst, Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, 1/2019)