telling a work of art /
Arbeiten die man sich erzählen kann
an e-mail project by Karin Sander
Betreff: mein kleiner Text über "Paradies" von A.L.Kennedy
Datum: Fri, 19 Apr 2019 0:10:00
Von:
kathrin roeggla
An:
Karin Sander
Jetzt gerade lese ich, das sehen Sie doch. Sie können nicht einfach daherkommen, mir sozusagen auf die Schulter tippen und mich sowas fragen. Ja, natürlich stehen darin Dinge, die mein Leben verändern werden, ein Leben, das ich im Übrigen nicht so gerne von meiner Arbeit trenne – alte Marotte, sehr angreifbar, ich weiß. Es fesselt mich sozusagen, dieses Buch, aber ja, wenn Sie das meinen. Ich finde es irrwitzig, ich frage mich, wie kann eine Schriftstellerin auf so eine Idee kommen, d.h. auf so eine Zusammenballung an Ideen, noch dazu eine schottische, naja, obwohl die englische Tradition auch da naheliegt – darf ich das sagen? Ich meine, wenn man an Lawrence Sterne denkt, der nun ja auch ursprünglich kein Engländer war (als ob die englische Literatur im besten Fall von Nichtengländern käme)…also auch hier eine nichtenglische Autorin auf Englisch, und ja, wenn Sie so fragen, natürlich hat so ein Buch Vorgängerbücher und Nachgängerbücher, aber klar, und man muss dabei nicht hängenbleiben. Ich will auch gar nicht davon anfangen, denn natürlich ist es absolut einzigartig. „Paradies“ von A.L. Kennedy ist ein einzigartiges, irrwitziges, wunderbares Buch. Aber, so genau kann ich es nicht sagen, denn ich lese es ja gerade noch, und ich kann auch keine Überblicksauskunft geben, nicht nur, weil Sie mich gerade stören, also meinen Lesefluss unterbrechen und ich so nicht ans Ende komme, sondern auch, weil ich den Überblick über den Text nicht habe, und auch vermutlich niemals haben werde – selbst wenn ich es abgeschlossen habe. Um ehrlich zu sein, ich verstehe im Grunde überhaupt nichts. Ich bleibe hängen, ich drehe durch, weil ich die Zusammenhänge wieder nicht raffe, weil es irgendwie doch von einem Säuferdelirium handelt von einer weiblichen Hauptfigur namens Hannah, und doch den ganz normalen Wahnsinn beschreibt, den wir alle erleben, also strenggenommen nicht auszusortieren ist in die Welt der Beschädigten, die uns Nicht-Hannahs nicht wirklich betrifft, weil wir uns natürlich weit weg genug halten von derartigem Alkoholkonsum, von derartiger Abartigkeit, aber ich bin noch nicht ganz dahinter gekommen, ob überhaupt Nicht-Hannahs existieren auf dieser Welt, und was die Autorin uns ansonsten noch zu verstehen geben will in diesem Roman über ein Trinkerinnenleben, und vielleicht will sie mir etwas ganz anderes sagen als anderen, jedenfalls anderes, als ich mir vorstellen kann. Ich weiß, dies Buch wird meine Arbeit beeinflussen, ich kann danach nicht mehr zurück zu dem Zustand vor der Lektüre. Es gibt keinen einfachen Anschluss an das davor durch das, was ich gerade lese. Nach der Lektüre existieren nicht mehr die geraden Linien, das Geradeausgeschau einer ausgewogenen, wohltemperierten Ästhetik, der ich im Grunde ja ohnehin nie nahe gekommen bin. Der Rausch, die rasende Bewegung zwischen ZuvielNähe und ZuvielDistanz, die verzückte Optik und die brüchige, hervorbrechende Trauer, sie lassen keinen zentralperspektivischen Eifer mehr übrig. Es ist ja auch nicht nur von einer Person die Rede, mit der vielleicht noch umzugehen wäre. Das ist zu bemerken. Es sind immer mehrere, um die sich die Handlung spinnt, Involvierte, Familienmitglieder, Städtebewohner, Arbeitgeber, Geliebte, alte Damen in Rollstühlen, Kinder, Dahergelaufene, Verkehrsteilnehmer, Mitpatientinnen, auch wenn von einer einzelnen Erzählperspektive auszugehen ist, die sich allerdings schon bald nach Beginn in mehrere Stränge irrlichternd aufteilt. Aber schon erzähle ich es falsch, ich kann es nicht geradlinig genug abbilden, sodass Sie es womöglich verstehen könnten, auf diese Weise bekommen Sie es doch nur in die falsche Kehle, und dann beschweren Sie sich, weil ich es so arg falsch angepackt habe und Sie sich nicht mehr auskennen. Meine Kinder fragen mich auch immer und stellen dann fest, ich kann kein Buch nacherzählen, es liegt mir einfach nicht. Aber das soll uns nicht weiter kümmern, wo ich doch gerade am Jetzt-Lesen bin, ein Zustand, in den mich nicht jeder und jedes Buch bringen kann. Ich werde als ein anderer Mensch aus diesem hier heraus spazieren wie ich hineinspaziert bin, und, bitteschön, das im Jahr 2019, (das auch bald vorbei ist). Ja, dieses Buch gibt es schon satte fünfzehn Jahre, ist also für unsere Begriffe uralt, in Buchläden praktisch nicht mehr vorhanden, weil Gegenwartsliteratur immer nur drei Monate – bei Bestsellern allenfalls neun Monate – in den Regalen steht, und was die Leute nicht sehen, kaufen sie nicht. Aber ich schweife ab. Warum dies Buch vielleicht doch in den Regalen steht, ist der Fakt, dass es ein Geheimtipp ist oder die Autorin eine Liebhabersache, oder soll man sagen Liebhaberinnensache, jedenfalls: Sie hat sich herumgesprochen. Aus gutem Grund. Warum ich erst jetzt danach greife? Ist ja interessant, dass Sie das fragen. Es liegt nämlich schon lange in meinem Regal, und ich gebe zu, ich habe schon mal danach gegriffen, es war aber nicht der rechte Augenblick, und jetzt ist eben der rechte Augenblick da, und just zu diesem Zeitpunkt kommen Sie und wollen wissen, ob es ein Werk gibt, dass mein eigenes Werkleben oder Arbeitsleben oder Lebenleben verändert. Wird, wird!, verspreche ich Ihnen eilfertig. Das wird schon. Das mit dem Lebenverändern. Ob wirklich alles eine Frage der Dosis ist?, fragen Sie nach, ungeduldig in dem Buch blätternd, das sich Ihnen noch immer nicht erschließt. Sie meinen, das Drama, nicht gleich stark betrunken zu sein wie der Liebespartner, sei ein missliches, aber durchaus nicht unbedingt abendfüllendes? Gottseidank sind Sie nicht auf die Idee gekommen, es handelt sich um die Frage nach dem Alkohol, die mich beschäftigen könnte. Also Trinken- Nichttrinken, das ist eine Problemstellung, die ich lieber in der Abteilung Wenedikt Jerofejew mit seiner „Reise nach Petuschki“ ablege, denn der hat sie schon in der Sowjetunion der 60er Jahren als äußert nützlich als Ablenkungsfrage entlarvt (und das will was heißen). Eine Decke, unter der sich viel Übermut verstecken lässt, aber auch viel subtilere und vielleicht gefährlichere Fragen, ein Minimalismus inmitten einer grotesken Phase dieses Planeten, eine Überbetonung, wo ansonsten unterbetont wird. Sie wissen das, das sehe ich Ihnen an: Wir sind aus dem Zeitalter noch nicht wirklich heraus, jawohl! Nur ich habe keine Ahnung, wo ich damit auf S. 359 gelandet sein werde, ich bin ja noch auf S.135, und das relativ fiktiv, weil ich ja gerade mit Ihnen rede. Wie sind Sie eigentlich auf die Idee gekommen, ausgerechnet mich zu fragen? Egal. In diesem Buch kommen Künstlerpersönlichkeiten vor, Doheny-Figuren, die selbstredend malen und unglaublich illustre Dinge tun, die keine Folgen haben, aber das tut nichts zur Sache. Es lässt nur ahnen, wohin das Buch steuern könnte – nur ich weiß nicht, wo ich damit landen werde – ins Folgenschwere? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Ich habe wirklich keine Ahnung. Es könnte auch schief gehen. Dies Buch ist ein Risiko, das ich freiwillig eingehe. Die Autorin schreibt „Schmutz. Ich brauche Schmutz. Die einzige Möglichkeit, das Ruder rumzureißen – an Schmutz denken. Nichts sonst kann mir helfen, das durchzustehen“ – Vielleicht ist es also doch kein Rechthaberbuch – mir war das klar, Ihnen aber vielleicht noch nicht. Es ist keine Sorte von Lektüre, in der sich letzten Endes alles um das Rechthaben dreht, unsere Erzählerin bewegt sich anders vorwärts, und vorwärts geht es. Allerdings nicht so, wie man gemeinhin heute oft gezeigt bekommt, eine andere Art Aufbruch. Was alleine schon an der Mehrkanalspur liegt, auf der sie sich vorwärts bewegt, der bewegliche Dissens, den wir nun mal darstellen auf dieser Welt, mal deutlicher, mal undeutlicher. Das ist etwas, was man immer wieder erneut einsehen sollte, aber immer öfter anders vermittelt bekommt als einem gut tut. Doch halt stopp – so wollte ich nie über dieses Buch sprechen – Wie bin ich da schon wieder hineingeraten? – Was sagen Sie, ich hätte einfach zu lange geredet? Ja, Sie haben recht, na, jedenfalls wissen Sie jetzt alles. Sie können nun weiterziehen.
© Kathrin Röggla, 2019