telling a work of art /
Arbeiten die man sich erzählen kann
an e-mail project by Karin Sander
Betreff: telling a work of art
Datum: Tue, 2 Apr 2019 13:50:00
Von:
Mark Lammert
An:
Karin Sander
Liebe Karin,
du fragst nach Begegnung, Bedeutung, Beeindruckung und Berührung, ausgelöst durch ein Kunstwerk - telling a work of art.
Diese vier Punkte unter einen Hut zu bringen - Begegnung, Bedeutung, Beeindruckung und Berührung - konfrontiert mich mit dem, der ich gewesen bin, mit früher Prägung und nachhaltiger Erinnerung: „...das für Dich und Deine Arbeit von besonderer Bedeutung ist oder war...“.(1)
Picasso. Zum Beispiel. Darauf komme ich, weil dort, wo ich aufwuchs, in seinem Fall (auch) zwischen Person und Werk unterschieden wurde.
Man sah sich im Berlin der DDR in die Lage versetzt, Töpfe, Teller und späte Bilder Picassos in Ansicht zu nehmen.
Nicht aber Zeichnungen.
Keine einzige.
Die Frage, die sich mir mit Anfang zwanzig stellte, war simpel wie die Erwartung gering: gibt es eine Zeichnung von Pablo Picasso auf dem Hoheitsgebiet der Deutschen Demokratischen Republik?
In einem Land, dessen Streben in Richtung Monumentalmalerei ging, dessen Keilrahmenangebot aber nie die Länge von 140 cm überstieg, war eine solche Frage nicht ohne ketzerische Arglosigkeit.
Die Frage fiel mir zu. Von ihrer Beantwortung ist deshalb zu erzählen, weil die Bedeutung für mich darin bestand, dass damit eher etwas beendet, als etwas ins Rollen gebracht wurde.
Es war lange ein Negativexperiment.
Im Nachhinein war die Spurensuche aber auch ein positives, weil offenes Abenteuer.
1962, zwei Jahre nach meiner Geburt, war in dem Land, in dem ich aufwuchs, ein kleines Buch erschienen, aus dem Russischen ins Deutsche übersetzt.
Das Buch hieß „Französische Hefte“. Der sowjetische Autor Ilja Ehrenburg beschreibt darin, wie Picasso ihn, Ilja Ehrenburg, 1948 in Wroclaw, das drei Jahre vorher noch Breslau hieß, zeichnet. („...1948, zur Zeit des Weltkongresses in Wroclaw, porträtierte mich Picasso. Als er zu zeichnen aufhörte, fragte ich ihn: „Schon?“. Mir schien, als hätte ich ihm nur sehr kurz gesessen. Picasso lachte: „Aber ich kenne Dich doch seit vierzig Jahren...“)(2)
Der schmale Band hat auf eine bestimmte Weise bis heute nicht an Zauber verloren. Auf dem Cover war genau das Porträt, das Picasso von Ilja Ehrenburg gezeichnet hat.
Diese Zeichnung hatte ich im Kopf, als ich 1982 in der Bibliothek des Kunstwissenschaftlichen Instituts der Humboldt-Universität zufällig in dem einzig dort verfügbaren Band des Werkverzeichnisses(3) von Picasso blätterte.
Es war der Band 15.
Er enthielt zwei von Picasso während seiner Reise nach Polen gezeichnete Porträts. Die Abbildung 79 war eben jenes mir bekannte „Portrait d`Ilya Ehrenbourg. Varsovie, 29 août 1948“. Das andere Porträt, Abbildung 78, „Portrait de Mercedes Arcas. Varsowie, 5 septembre 1948.“ hatte mich stutzen gemacht.
Der Name kam mir bekannt vor...
Da im Titel der Nachname ihres Vaters verwendet wurde, brauchte ich einen Moment, sie zu zuordnen. Als ich später dann eine Postkarte sah, die sie - Mercedes Sanchez - meinem Vater von einem ihrer ersten Besuche in Madrid, nach Jahrzehnten der Emigration geschickt hatte, wurde mir klar, dass sie – ganz einfach – eine Kollegin meines Vaters war.
Es gab in Ostberlin viele spanische Emigranten. Vom Architekten Arcas wusste ich, dass er einer der Auftraggeber der republikanischen Regierung für den spanischen Pavillion 1937 auf der Pariser Weltausstellung gewesen war und damit für „Guernica“ von Picasso. Auch weil Ilja Ehrenburg in seinen 1978 in Ostberlin erschienenen Erinnerungen die republikanischen spanischen Architekten erwähnt, die vor Franco nach Moskau geflohen waren.
Ein höchst moderner spanischer Architekt, verantwortlich für den spanischen Pavillon 1940 in New York. Eine Weltausstellung, die es nicht gegeben hat. Ein Jahr, das es für die spanische Republik nicht mehr gab.
Auch deshalb war der Kongress 1948 für Picasso eine Wiederbegegnung mit dem Architekten Manuel Sanchez Arcas. „[...] Zu den erfreulichsten Erlebnissen, die Pablo in Warschau gehabt hatte, gehörte die Begegnung mit den fünf oder sechs Architekten, die beauftragt waren, die Stadt wieder aufzubauen. Sie erläuterten ihm ihre Pläne und Methoden.“(4)
Es gibt ein Foto, das diese Wiederbegegnung zeigt: Picasso, Arcas und Paul Eluard in Warschau.
Arcas hatte Moskau verlassen und war jetzt einer der benannten „fünf bis sechs Architekten“ in Warschau. („Nebenberuflich“ war er auch Botschafter des nicht mehr existierenden republikanischen Spaniens in Warschau.) Später, in Ostberlin, gab er das Fachbuch heraus: „form und bauweise der schalen“.(5)
Es wird dem Spezialisten für Betonbau einige Mühe gemacht haben, 1961 in der DDR die kleingeschriebene Bauhaus-Typografie auf dem Titel seines Buches durchzusetzen.
Die Zeichnung Picassos von Arcas Tochter Mercedes war in Serock im Haus von Helena und Szymon Syrkus am Fluss Narew entstanden. Mercedes Sanchez, war die inoffizielle, private Dolmetscherin für Picasso, vor allem für das Übersetzen aus dem Russischen in das Spanische. Dazu hatte es einigen Grund gegeben.
„[...] eine Veranstaltung, ein gemeinsames Essen der Delegationen, war eine Katastrophe [...]“, so beschreibt es Picasso, „Die Polen waren von jeher aufgeschlossen und unabhängig, keinem von ihnen fiel es ein, meine Malerei aus politischen Gründen zu kritisieren. Am Ende des Dinners, als die Toasts ausgebracht wurden, stand einer von der russischen Delegation auf und sagte, er sei glücklich darüber, dass ich zum Kongress gekommen sei, aber trotzdem sage er es frei heraus, dass es ein Jammer sei, dass ich immer noch in einer so dekadenten Manier male und damit die üble bürgerliche Kultur des Westens repräsentiere. Er sprach sogar von meinem „impressionistisch-surrealistischem Stil“. Kaum saß er wieder, da stand ich auf und erklärte, dass ich mich von einem Parteischreiberling nicht in dieser Weise angreifen lasse... Wenn er mich schon beleidigen wolle, solle er wenigstens die Terminologie richtig anwenden und in mir einen der Erfinder des Kubismus verdammen... und ich fügte hinzu, dass diese Redensarten, wie immer sie lauten mögen, stets in schlechten Augenblicken der Geschichte auftauchten und jedes Mal von Leuten ausgingen, die man nicht sehr achte. Daraufhin regten sich alle ringsum auf und protestierten nach den verschiedensten Richtungen. Die Polen versuchten die Sowjets zu beruhigen, indem sie einräumten, dass vielleicht einiges an meiner Malerei dekadent sei, aber sie könnten keinesfalls zugeben, dass man ihre Gäste beleidigte [...]“.(6)
Beneiden kann man in dieser Situation 1948 vermutlich weder den Schriftsteller Ehrenburg, 57 Jahre alt, noch die Dolmetscherin Sanchez, Mitte zwanzig.
Wie man ahnt, machte es aus diesem Blickwinkel Sinn, beide Zeichnungen, die von Ehrenburg und die von Mercedes Sanchez, auf einer Seite im Werkverzeichnis Picassos abzubilden, das im Jahr von Stalins Tod erschienen war.
Dieses Blatt konnte ich nun oft und in aller Ruhe in der Wohnung der Kollegin meines Vaters studieren. Das Privileg, das Vorgezeigte sehen zu dürfen, war offensichtlich. Und offen die temperamentvolle, herzliche Gastfreundschaft von Frau Sanchez.
Von seiner Existenz im Osten Berlins wusste fast niemand etwas.
Es gab keinen Grund, das durch Geschwätzigkeit zu ändern.
Das Abenteuerliche daran war nicht nur, doch eine Zeichnung Picassos in Ostberlin gefunden zu haben, sondern was dieses Anschauen selbst mit mir machte. „In den Blick nehmen“- ich nahm jetzt die Zeichnung und ihr Modell gleichzeitig wahr, in dem mir Mercedes Sanchez unter der Zeichnung von Picasso selbst Modell saß.
Was jetzt begann, war eine Art bewusstseinsgespaltenes Zeichnen.
Die letzten Jahre des Landes, das Frau Sanchez als letzten Ort ihrer Emigration diente, verbrachte ich nun auch damit, mit gehörigem Abstand zwischen den einzelnen Sitzungen, jeweils an einem Freitag Frau Sanchez zu zeichnen.
Hier war es nicht so, dass ich sie seit vierzig Jahren kannte - aber ich war in etwa in dem Alter, in dem sie gewesen war, als sie am 5. September 1948 in Wroclaw Modell gesessen hatte. Zwischen diesen 40 Jahren, die zwischen Zeichnung und Modell lagen, hatte auch anderes Platz.
Diese Kluft füllten verschiedene Unterschiede: die Emigrationsroute Spanien-Sowjetunion-Polen-DDR als Erzählstoff während des Zeichnens war zum Beispiel einer, vermutlich lagen dort auch Ideale, Ansichten und verlorene Illusionen... Alles was jetzt eine Rolle spielte, lag auch im Ohr des Betrachters. Das Schweigen beim Zeichnen füllte das nicht-Angesprochene nicht, aber die Spannung zwischen der realen Zeichnung und dem Modell, der Realität der Zeichnung und der von Frau Sanchez – auch ihrer ungeheuren Geduld beim Modell sitzen - ermöglichte, das Eigene zu zeichnen: die geheime Picasso-Zeichnung, die sich nach Ostberlin eben nicht verirrt hatte, sondern hierher emigriert war und die Spanierin, die den größten Teil ihres Lebens nicht in Spanien gelebt hatte, und nun, nach dem Tode Francos, schon seit einiger Zeit wieder dort war.
Ich zeichnete fort: bis 1989.
Es gibt interessantere Zeichnungen von Picasso als dieses Porträt. Aber keine hat mehr russisches Roulette mit mir gespielt, mich befreit und gehemmt durch und mit Picassos Modell. Entstanden ein Jahr vor dem Land, in dem ich lebte, zeichnete ich bis zu dem Moment, als dieses Land in seinem vierzigsten Jahr endete.
Es schien mir, als sei ich gut vorbereitet auf das, was jetzt zu kommen hatte.
(1) Telling a Work of Art, Karin Sander, Einladungsbrief vom 21.12.2018
(2) Ilja Ehrenburg, Französische Hefte, Fundus-Bücher 5, Dresden 1962
(3) Pablo Picasso, par Christian Zervos, vol. 15, Oeuvres de 1946 a 1953, Paris 1953
(4) Francoise Gilot/Charlton Lake, Leben mit Picasso, München 1965
(5) m. sanchez-arcas, form und bauweise der schalen, VEB Verlag für Bauwesen, Berlin 1961
(6) Francoise Gilot/Charlton Lake, Leben mit Picasso, München 1965