telling a work of art /
Arbeiten die man sich erzählen kann
an e-mail project by Karin Sander
Betreff: AW: Telling a Work of Art
Datum: Thu, 3 Jan 2019 11:20:00
Von:
Ulrike Lorenz
An:
Karin Sander
„Fleischlaub und Hurenherbste“°: Dame mit Nerz und Schleier von Otto Dix (1920)
Ein Kniestück ohne Dekor und Ambiente. Bleich verfallenes Inkarnat auf dunklem Grund, rührend blöde Zutraulichkeit über rutschendem Unterrock, schleiervergitterte Erstarrung. Schrundige, stumpfe Malerei. „Kunst machten die Expressionisten genug. Wir wollten die Dinge ganz nackt, klar sehen, beinahe ohne Kunst.“
1920 findet ein fundamentaler Umbruch im Werk von Otto Dix statt. Vier Jahre später wird ihn Willi Wolfradt „ein künstlerisches Elementarereignis“ nennen, „unwiderstehliches Hervorbrechen ursprünglicher, ausgehungerter Wirklichkeitsinstinkte". Wir schreiben das zweite Dresdner Jahr nach dem Ersten Weltkrieg, den Dix mit neuem Selbstverständnis überlebte: „Der Künstler, einer der den Mut hat Ja zu sagen.“ 1919 waren kosmische Pathosformeln vom Urweib, der mythischen Gebärerin, schnell verglüht. Jetzt wetterleuchtet das Hohngelächter Dadas durch ausschweifende Kriegskrüppel- und Lustmordszenarien. Das „Frontschwein“ tobt gegen den Hoppla, wir leben- Zynismus der Nachkriegsgesellschaft. Noch hat er sich nicht zur aalglatten Schärfe seiner Salon-Darstellungen und des Mädchen vor dem Spiegel durchgerungen, die 1921 den Staatsanwalt auf den Plan rufen. 1920 ist das Jahr der endgültigen Ankunft in der Wirklichkeit. Hier locken bizarre Randexistenzen, an deren eigensinnigen Charakteren, gezeichneten Gesichtern sich mannigfache Formen menschlicher Selbstbehauptung studieren lassen. Dix arbeitet mit unverwüstlicher „Lust am Grotesken“ am großen Lebensthema: der Dialektik des Daseins zwischen Eros und Tod.
Dame mit Nerz und Schleier: Zum erst 1993 in amerikanischem Privatbesitz aufgetauchten Bildnis gesellen sich 1920 Mädchen am Sonntag und Alter Arbeiter in Dachkammer – alle wirken sie wie vereist. Eingekeilt in enge Formate, die kaum Raum lassen für Milieu und Handlung: steife Posen, angestrengte Mienen, starre Blicke. An vorderster Front der konzentrierten Diagnose des Künstlers ausgeliefert, harren sie in kratzigen Pullovern, schiefen Jacken, fremdem Sonntagsstaat vergebens auf Erlösung.
Zwei in unschuldsvoller Bläue leuchtende Schleifen schrauben die schmale Figur am grau zugestrichenen Bildhintergrund fest. In der allzu knappen Kappe auf dem Haarschopf klingt die Enge der Lebensverhältnisse an. Als Schleier dient Gardinenstoff, ein mageres Gitterwerk, das nichts verbirgt. Dahinter glimmt falsches Wangenrot auf, blinkt schadhaftes Gebiss zwischen aufgeworfenen Lippen, schillert grüner Blick durch stacheldrahtbewehrte Lider. Die bogige Bordüre des Unterrocks begleitet den Kaskadenfall der Brüste und Bauchfalten und konterkariert die landkartenähnlich geäderte, graugrün-rosa changierende Haut. Als Nerz tritt – blutrot aufgerissenen Augs – das Präparat eines ausgedienten Straßenköters auf. Müdes Fell schlingt sich um fahl hängende Schultern und grapscht mit krallenbewehrten Pfoten nach Brust und Schoß.
Dame mit Nerz und Schleier – der Titel ist sarkastische Distanzierung, typisch für Dix. Das Porträt entpuppt sich als karikierende Überformung eines Akademie-Aktmodells, der Arbeiterin Anna, die der Zeichner als Alte auf Stuhl in ruppigen Strichen mit Kohle umreißt. In Öl aber ringt er um forcierten Ausdruck, der Dissonanzen und Doppelbödigkeiten offenbart. Anna zeigt sich gewappnet wie zum Fototermin, mit Schleier und Schleifen, Hut und Pelz. Der ganze falsche Aufwand wird zum decouvrierenden Befund einer bemitleidenswerten Existenz, die uns der zum Enfant terrible der Gegenwartskunst avancierte Proletariersohn aus Ostthüringen nicht ohne mitmenschliche Empathie vorführt.
Die lächerlich aufgeputzte Alte ist eine Welt weit entfernt von der gleißnerisch verwehten Eleganz späterer Halbweltdamen- und Dirnenporträts. Noch hat der Maler die abgründige Semi-Transparenz lasierender Hüllen, die sich wie dünnes Eis auf spiegelglatte Oberflächen legen, nicht kultiviert. Hier ist urwüchsiger Bildwitz am Werk, der an der Materie Mensch künstlerische Mittel und Methoden ausprobiert, Struktur und Stofflichkeit in die feuchten Malgründe einarbeitet und Farbschicht um Farbschicht aufhäuft zu plastischen Wucherungen. Das ist Dix‘ originärer Beitrag zur Moderne. Sein veristischer Brutalrealismus mit sozialkritischer Potenz gipfelt 1923 im Schützengraben-Großformat, das bis zu seiner wahrscheinlichen Vernichtung durch die Nationalsozialisten 1939 den wirksamsten Politskandal in der deutschen Kunst entfesselte.
1920 kündet Dame mit Nerz und Schleier vom Pathos des alltäglich Hässlichen, an dem sich die „Lust am Schaffen“ entzündet: „Das muß ich machen!“ Grimassierenden Gesichts die Integrität einer plebejischen Kleinbürgerexistenz wahrend, hält sie den Blicken der Betrachter stand bis heute. Im Individualporträt lässt Dix den sozialen Typus in voller Ambivalenz aufscheinen – und überdauern. „Der Maler wertet nicht, er schaut.“
Ulrike Lorenz
° Gottfried Benn, Nachtcafé IV, 1917; alle anderen Zitate von Otto Dix