telling a work of art /
Arbeiten die man sich erzählen kann
an e-mail project by Karin Sander
Betreff: Re: Telling a Work of Art
Datum: Wed, 9 Jan 2019 13:05:00
Von:
mathias spahlinger
An:
Karin Sander
anders
jetzt stand ich vor einer doppeltür, deren einer flügel ein stück weit offen gelassen war wie von jemandem, der bald zurückkommen müsste.
davor war ich eine kellertreppe heruntergekommen, die in einem für ihre relative enge fast zu großzügigen u-bogen hierher geführt hatte.
davor war ich durch einen verschließbaren aber offenstehenden, ebenerdigen hausfllur gegangen, der in ein hinterhaus hätte führen können, aber auf dem oberen treppenabsatz endigte.
davor war ich auf einem nächtlichen spaziergang bei nieselregen in eine enge seitengasse mit kopfsteinpflaster geraten. an deren ende, wo sie in einen kleinen platz und in eine belebtere straße mündete, hörte ich hinter einem kellerfenster musik. die hatte ich noch nie gehört. mit alarmartiger plötzlickeit war mir aber deutlich, dass dies die musik sein musste, von der mir freunde eindringlich und in großer aufregung erzählt hatten.
die musik war gedänpft. ich trat näher an das fenster heran und verharrte. offenbar kam die musik nicht aus dem raum, zu dem das fenster gehörte, sondern zu einem weiter innen im gebäude befindlichen. sobald ich mich darauf eingestellt hatte, besser hören zu können, trat der effekt ein, von dem mir erzählt worden war. die musik verstummte nicht etwa, was erstaunlich genug gewesen wäre, sie erstarrte.
es hat in den pioniertagen der tontechnik eine erfindung gegeben, der man den namen "tempophon" gegeben hatte. dieses gerät überlistet das tonband, auf dem tempo und tonhöhe aneinander gebunden sind, durch ein system von kreisformig angeordneten tonköpfen, das vor dem tonband rotiert. so lassen sich geschwin-digkeit und tonhöhe unabhängig vonenander regeln, bis zu dem extemfall, dass das tonband stillsteht und der "unwiederbringliche augenblick", der klangliche status quo, ohne davor und danach, ohne kontext, das "jetzt" des klangs als dauer wiedergegeben werden kann. diese erfahrung ist so befremdlich, weil es unmöglich ist, in einem k oder t, das zu einem stehenden klang gedehnt ist, das original zu vermuten, so unähnlich ist er diesem.
jetzt näherte sich hinter der doppeltür jemand. er war schwarz, aber nicht wie ein afrikaner oder ein afroamerikaner. schwarz wie kohle.
"ich kenne dich. ein autor hat dich erfunden mit namen hanns. der hat auch eine klaviermusik erfunden, die so schnell geht oder in mehreren verschiedenen tempi gleichzeitig, dass sie kein mensch spielen kann. die hat später ein komponist mit namen con komponiert, für mechanisches klavier.
übrigens ich weiß sogar, wie du heißt! du heißt anders."
"und wie heißt du?"
"ich heiße auch anders, genau wie du."
"dann hat dich vielleicht auch ein autor erfunden. womöglich einer, der sam heißt oder pete; oder ted?"
"das ist möglich"
"oder ben?"
"ich kenne zwei autoren, die beide friz heißen, von denen ich schon manchmal dachte, dass sie mich erfunden haben könnten.
aber sage mir, was ist das für eine musik, die erstarrt zu einem dauerklang, wenn man stehen bleibt, um sie genauer anzuhören?"
"nicht nur das. wenn du langsam durch den raum gehst wirst du bemerken, dass die musik sich allmählich verändert und, wenn du schneller gehst, umso schneller und umso mehr, je weiter du dich von deinem ausgangspunkt entfernst.
gehe einmal mir nach. wenn ich stehen bleibe, komme auf mich zu und komme immer näher. und wenn ich zur seite trete, dann nimm genau den platz ein, auf dem ich gerade eben stand. dann wirst du die musik genau so hören, wie ich sie gerade zuvor gehört habe."
"aber ist das nicht absurd? wenn ich an dem punkt stehe, den du gerade vorher eingenommen hast und ich die musik genauso höre, wie du, als du an diesem punkte standest, du jetzt aber neben mir stehst und die musik anders hörst, dann werde ich doch nie erfahren, ob du an meiner stelle (oder an der stelle, die jetzt die meine ist) genau dieselbe musik gehört hast. und mehr noch und noch verwirrender: wir werden nie erfahren, wie die musik in wirklichkeit klingt."
"hey, stupid!" sagte anders. und er lächelte fast wie erleichtert, so als ob er mir bedeuten wollte, dass seine anrede nicht als affront gemeint war.
"das," sagte anders, ist doch die wirklichkeit."
liebe karin sander,
vielen dank für ihre anregung zu einer beteiligung an ihrem projekt "telling a work of art."
im anhang finden sie einen text, den ich daraufhin geschrieben habe. es handelt sich weniger um die beschreibung eines kunstwerks selber, als um die beschreibung der kommunikationsweise, die thematisiert wird, wenn wir kunst beschreiben.
mit freundlichen grüßen,
mathias spahlinger