telling a work of art /
Arbeiten die man sich erzählen kann
an e-mail project by Karin Sander
Betreff: telling a work of art
Datum: Thu, 25 Apr 2019 17:35:00
Von:
Luca Lombardi
An:
Karin Sander
Paul Klee gehört zu meinen Lieblingsmalern und Lieblingskünstlerpersönlichkeiten. Ich mag alle seine Bilder. Es gibt allerdings eines, das mir besonders wichtig ist, weil es mir schon vor langer Zeit geholfen hat, meine eigene Arbeit, ja mein Blick auf die Welt besser zu verstehen. Ich gebe zu, dass der Titel des Bildes auch dazu beigetragen hat. Dabei mag es sein, dass meine Interpretation nicht nur persönlich, sondern sogar falsch ist. Als ich das Bild zum ersten Mal sah - es handelt sich um "Hauptweg und Nebenwege" - war ich sofort von seiner Struktur und seiner farbigen Komposition angezogen. Die Geschichte seiner Entstehung kannte ich damals nicht (Klee malte es nach seiner Reise nach Ägypten am Jahreswechsel 1928/29). Ausserdem war ich, wie gesagt, vom Titel fasziniert (und die Titelgebung ist bei Klee ein wichtiger Teil seines kreativen Prozesses). Inwiefern unterscheidet sich der Hauptweg von den Nebenwegen? Von der chromatischen Qualität her sind sie verwandt. Auch sind sie alle parzelliert. Doch die Nebenwege sind, insofern sie nicht geradlinig - und also gleichsam schneller - zum "Ziel" führen, allemal interessanter. Doch was ist das Ziel? Die senkrechten Streifen der Wege (die ihrerseits in Querstreifen unterteilt sind) führen zu (bzw. enden bei) überwiegend blauen Streifen am oberen Rand des Bildes. Ob diese den Horizont oder Wasser suggerieren (vielleicht den Nil - wobei der Nil, wie auch der "blonde" Tiber meiner Vaterstadt, wohl eher gelb-braun als blau ist...), sei dahin gestellt. Ich begnüge mich damit zu sagen, dass alle Wege, ob schnurstracks oder auf Umwegen "ins Blaue" führen. Das Ziel ist ungewiss. Mag sein, dass das Blaue der Anfang einer wunderbaren Offenbarung ist. Oder aber, dass es ein Sprung ins Nichts ist. Und darin unterscheiden sich alle Wege nicht. Unser Leben eine Fahrt ins Blaue? Möglich. Doch das bedeutet auch eine grosse Freiheit. Freiheit ist wiederum Chance und Verpflichtung eines jeden Künstlers. Wobei er den Weg - ob er nun Haupt- der Nebenweg ist - sich selber bahnen muss. Unglücklich der Künstler, der auf dem einzig richtigen Weg zu gehen wähnt. Ob dies der Fall ist oder ob es ein Holzweg ist - darüber wird erst die Geschichte urteilen.
So sehe ich es heute und so habe ich es schon immer gesehen. So schrieb ich beispielsweise vor dreieinhalb Jahrzehnten: "Unbeschadet derer, die die Autobahn Beethoven-Brahms/Wagner-Schönberg-Webern einschlagen wollen (um dann von Stockhausen, Boulez oder Nono weiterzufahren), muss zugegeben werden, dass es auch eindrucksvolle Feldwege gibt (Janáček, Bartók), interessante Bergtouren (auf die Hartmannsche Hochebene), aber auch die endlose Steppenlandschaft (Schostakowitsch) und freilich auch die abenteuerlichen metropolitanischen Mäander (Varèse, in anderer Hinsicht Eisler)."
Oder: "Die Geschichte der Musik zeigt, dass das, was den Protagonisten und ihren Zeitgenossen als unversöhnliche Alternativen erscheinen konnten, sich als komplementäre Erfahrungen erwiesen haben (Brahms/Wagner, Schönberg/Strawinsky, aber auch Charles Ives, Béla Bartók, Edgard Varèse, etc.). So wie es eine "chromatische Totale" gibt, so gibt es auch eine "ästhetische Totale", innerhalb derer unterschiedliche und entfernte Komponisten eine spezifische und notwendige Funktion erfüllen."
Paul Klee, der sich souverän auf verschiedenen Wegen der Kunst bewegte, der dank seiner schöpferischen Kraft angebliche Seitenwege zu Hauptwegen der Kunst gestaltete, bleibt für mich ein unverzichtbarer Bezugspunkt.
Luca Lombardi
Marino (Rom), 25. April 2019