telling a work of art /
Arbeiten die man sich erzählen kann
an e-mail project by Karin Sander
Betreff: telling a work of art
Datum: Fri, 10 May 2019 0:05:00
Von:
Dorothee von Windheim
An:
Karin Sander
Dorothee von Windheim
Schatzkammer
Paris, Ende der 1970er Jahre, Bibliothèque Nationale. Recherchen zum Schweißtuch der Heiligen Veronika.
In einem der alten Bücher, die nach Vorbestellung für mich aus dem Safe geholt werden, entdecke ich den Hinweis auf ein fleckiges Tuchbild, das in Wien in der Schatzkammer der Geistlichen Hofburg als Schweißtuch der Heiligen Veronika verwahrt wird. Vage Angaben, keine Abbildung.
Das Wort „Tuchbild“ in Zusammenhang mit der Heiligen Veronika reicht aus, um mich so neugierig zu machen, dass ich kurz darauf mit dem Nachtzug nach Wien reise.
Dort angekommen, mache ich mich unverzüglich auf den Weg zur Hofburg.
In der Schatzkammer suche ich nach dem Tuchbild und bin verwundert, dass ich es auf dem untersten Regalboden einer schrankhohen Glasvitrine aufgestellt, nach meinem Gefühl eher abgestellt, finde.
Um es genau zu betrachten, setze ich mich dicht davor auf den Fußboden.
Ich schaue und schaue und schaue.
(Meine lange Verweildauer beunruhigt offensichtlich den zuständigen Wärter.)
Ich sehe ein dünnes schmutzig-weißes Stück Stoff im Format eines größeren Taschentuches, eingelassen in ein Ostensorium, einen Schaurahmen. Auf dem Tuch sind hellere und dunklere, unterschiedlich große Flecken ungleichmäßig verteilt, die meisten davon schmutzgrau, einige gelblich, einige sepia. Zu den Rändern der Flecken hin ist die Substanz, die sie verursacht hat, konzentrierter.
Da es möglich ist, um die Vitrine herumzugehen und diese, wie der Schaurahmen des Tüchleins, beidseitig verglast ist, kann ich auch die Rückseite des Stoffes in Augenschein nehmen. Ich bemerke, dass die Flecken hier ebenso gut zu erkennen sind wie auf der Vorderseite, dass also die Substanz das Gewebe durchtränkt hat.
Für sich besehen, legen weder das Stückchen Stoff, noch die Verteilung der Flecken darauf, eine bestimmte Deutung nahe.
Die dazugehörige Bezeichnung als Schweißtuch der Heiligen Veronika führt jedoch augenblicklich zu einer gerichteten Betrachtungsweise:
Sie führt mich als Betrachterin dazu, dass ich etwas sehe, was ich nicht vor Augen habe.
Nachdem es mir am Ausgang der Schatzkammer nach längerer Verhandlung noch gelungen ist, eine schwarz-weiß Aufnahme des Tuches aus dem Fotoarchiv zu bestellen, verlasse ich die Hofburg.
Ich begebe mich zum Bahnhof, nehme wieder den Nachtzug, nun in die entgegengesetzte Richtung, und fahre zurück nach Paris.
Die Fotografie habe ich beim Verfassen des oben stehenden Textes übrigens nicht zu Rate gezogen.
Köln, den 06. Mai 2019