telling a work of art /
Arbeiten die man sich erzählen kann
an e-mail project by Karin Sander
Betreff: Re: telling a work of art
Datum: Fri, 19 Apr 2019 16:00:00
Von:
Siegfried Zielinski
An:
Karin Sander
The Quay Brothers: „In Absentia“ (2000)
35mm-Film, schwarz-weiß, 19’; Originalmusik Karlheinz Stockhausen
Ausgangspunkt des Meisterwerks der Gebrüder Quay war eine Komposition, die Karlheinz Stockhausen den Filme machenden Zwillingen aus Philadelphia, die u.a. bei Eduardo Paolozzi (1924-2005) am Londoner Royal College of Arts studierten, zur freien Verfügung stellte. Der Rahmen war eine Programmreihe der BBC, die zur Milleniumswende herausragende Komponisten und Bewegtbildkünstler miteinander in den Dialog bringen wollte. Neben der polnischen, der russischen und tschechischen Avantgarde des 20. Jahrhunderts (Alexandre Alexeieff, Leoš Janáček, Bruno Schulz, Ladislav Starewicz oder Jan und Eva Švankmajer) beziehen sich Stephen und Timothy Quay immer wieder auch explizit auf die Kunst Psychatrisierter und Kriminalisierter im 20. Jahrhundert. Die Sammlung des Kunsthistorikers und Arztes Hans Prinzhorn (1886-1933), aber auch zahlreiche andere Archive und Sammlungscontainer von Kliniken und Gefängnissen, spielen dabei eine wichtige Rolle.
Eines der faszinierendsten Blätter in der Heidelberger Prinzhorn-Sammlung sind die mit engen Schriftzeichen übersäten Bleistiftaufzeichnungen der Patientin Emma Hauck aus der Zeit um 1909. Manisch verfasste die junge Frau Hunderte von Briefen an ihren geliebten Ehemann, die sie aber niemals abschickte. Sie versteckte die dicht beschriebenen Blätter in einer Nische hinter dem Schrank ihres Krankenzimmers.
Drei Artefakte sind es, die die Quays in das Zentrum ihrer filmischen Verarbeitung der Musik Stockhausens rücken: den Bleistift, den die Protagonistin bis auf den kaum mehr handhabbaren Stummel herunterschreibt, bevor sie einen neuen vorbereitet, den mechanischen Bleistiftspitzer, mit dem sie die Schreibinstrumente anspitzt, und die Figur der Emma Hauck selbst, die wie eine Maschine und wie am Fließband die gleichermaßen eindringlichen wie unlesbaren Text produziert. Der Körper der jungen Frau, der sich die Seele aus dem Leib geschrieben hat, wird durch die phantastische Animationsarbeit der Regisseure belebt. Die drei Artefakte bilden eine Symbiose. In dichten Montagen von Einstellungen, die zwischen extremen Details wie den übergroßen Aufnahmen der graphitgefärbten Fingernägel und den totalen Außenansichten des Psychiatriegebäudes hin und her springen, entsteht eine audiovisuelle Struktur, für die die Briefe der Emma Hauck die Notationsvorlage zu sein scheinen.
Als die Quay Brothers die Idee zu ihrem Film entwickelten, kannten sie zweierlei nicht: Stockhausens Faszination von mechanischen Bleistiftspitzern, aber - noch viel wichtiger - das tragische Schicksal der Mutter des Komponisten. Sie wurde in Hadamar ermordet, zusammen mit 15.000 weiteren von den Nazis Psychiatrisierten und als „lebensunwert“ Befundenen. Der Ehemann Gertrud Stockhausens, nachdem der weltberühmte Komponist seinen Sohn Simon benannte, hatte sich nach der Einlieferung seiner kranken Frau in die Klinik von ihr scheiden lassen, entmündigte sie und trat selbst in die NSDAP ein.
Im „Donnerstag“ betitelten Teil seines siebenteiligen Opernzyklus „Licht“, den Karlheinz Stockhausen zwischen 1977 und 2003 komponierte, hat er die Erinnerung an seine Mutter zu verarbeiten versucht.
Siegfried Zielinski
Berlin, 19. April 2019