telling a work of art /
Arbeiten die man sich erzählen kann
an e-mail project by Karin Sander
Betreff: telling a work of art
Datum: Tue, 7 May 2019 14:25:00
Von:
Michael Ruetz
An:
Karin Sander
CHRISTINA'S WORLD
Müßig, allgemeine Gründe dafür zu suchen, warum man ein Werk besonders schätzt. Für mich gilt: mein Liebling ist ein Kunstwerk, das mir bei jeder Begegnung etwas bislang Unentdecktes bietet. Ein solches Werk ist unerschöpflich, wenn man sich zum Lesen, Hören, Sehen aktiv Zeit nimmt und sich konzentriert. Kunst eröffnet, wenn man sich selber öffnet. Ein staring contest: man muss den Blick erwidern.
Für Grant Wood, Edward Hopper und den eigensinnigen Andrew Wyeth habe ich seit je ein Faible. Des rätselhaften Grant Wood Bilder sind schwer zu deuten - sofern man dies denn will. Sein überinterpretiertes American Gothic ist angeblich ein Kollektivportrait Amerikas. Das Geheimnis dieses Bildes ist der höchst banale Gegenstand. Mein Interesse an Edward Hopper basiert darauf, dass ich mich sehr oft auf Cape Cod aufhielt, und es mir gelegentlich so vorkam, als stünde ich in einem Bild von Hopper.
In Andrew Wyeth' Christina's World bin ich regelrecht hineingegangen. 1982 stand ich auf der Wiese in Cushing, Maine und pilgerte hinauf zum Olsen-Haus. Das gab mir nichts, was mir das Bild nicht längst gegeben hatte. Es war weitestgehend überflüssig.
Die Konstruktion von "Christina's World" ist denkbar einfach. Das wichtigste Element ist nicht identifizierbar. Die kauernde Figur links unten könnte man für ein junges Mädchen halten, das unbeschwert auf einer Wiese spielt, das zufällig nach rechts oben blickt. Oder man assoziiert eine in der Wüste Durstende, die eine Fata Morgana erblickt und sie in Gedanken schon erreicht hat. Oder einen angespülten, unbeholfenen Hummer. Tatsächlich ist Christina Olsen eine ältere, schwer verkrüppelte Frau, die wegen eines nicht therapierten Geburtsfehlers wie ein Tier auf allen Vieren kriechen musste. Sie hatte keine Nachkommen.
Einzigartig macht das Bild nicht diese Figur. Es ist vielmehr seine suggestive Leere. Und die ungeheure, nur gedachte Diagonale. Wyeth verstärkt den Spannungsbogen dadurch, dass er Christina und ihr Haus, das Ziel ihres Blicks, in die äußeren Ecken der Komposition stellt. Der Blick der kauernden Christina fliegt zu einem unerreichbaren Ziel. Es zu erreichen: für ein junges Mädchen ein paar Schritte. Für Christina eine kolossale Qual. Vielleicht trug Wyeth sie hinauf. Das rosa Kleid war ein Geschenk von ihm. Die Wiese und das Oslo-Haus sind derzeit eine nationale Pilgerstätte. Touristen krabbeln auf der Wiese und lassen sich knipsen. Das Olsen-Haus ist neuer denn je.
Dieses Bild in seiner Wiederkehr als Nachbild war Anlass eines Bildes, das ich 46 Jahre später machte. Wir übernachteten im 6. Stock im Boston Harborview Hotel mit Blick auf Logan und die Bucht. Anna Amalia, damals Vier, schlief direkt unterm Fenster. Geweckt wurde sie dadurch, dass von außen Jemand an die Scheibe klopfte. Auf dem Sims stand eine riesenhafte Möwe. Die beiden tauschten einen langen Blick. Zu sagen gab es nicht gerade viel. Die Diagonale ihres Blickwechsels suggerierte die in Christina's World. Dies fiel keineswegs nur mir auf. Eine Sammlerin aus New York taufte mein Bild, das ich 2001 in einer Ausstellung zeigte, ohne Umschweif "Christina's World" und kaufte es vom Haken.
Der Blickwinkel ist die einzige Analogie der beiden Bilder. Außer der Blick-Diagonale gibt es keinerlei Gemeinsamkeit. Die Diagonale: das mächtigste Element der Bild-Architektur.
Dienstag, 7. Mai 2019