telling a work of art /
Arbeiten die man sich erzählen kann
an e-mail project by Karin Sander
Betreff: kleiner Text "Der Apfel"
Datum: Fri, 19 Apr 2019 13:10:00
Von:
Sibylle Lewitscharoff
An:
Karin Sander
Marieluise Fleißer
Was auch immer Marieluise Fleißer geschrieben hat, es sitzt. Zwar ist ihr Stil eher karg, aber so manche Formulierung entfaltet eine ungeheure Leuchtkraft und hebt den Text in ungeahnte Höhen. Ihre Figuren sind meist arm, in der Welt der Großen haben sie wenig zu bestellen. Doch auch in einer kleinen Welt kann ein Kleiner größer sein als eine Kleine, besonders, wenn es um das schwierige Spiel zwischen Mann und Frau geht, und da sind die Frauen manchmal noch kleiner als die Männer, wenn sie zu sehr verliebt sind. Dann kann die Verliebtheit eines armen Mädchens eine Auslieferung auf Gedeih und Verderben bedeuten.
Davon erzählt die kleine Geschichte Der Apfel. Ein schüchternes Mädchen wartet und wartet auf ihren Geliebten. Sie ist sehr arm, ein anrührendes Geschöpf, ihr Freund ist ein hochherziger Räuber. Marieluise Fleißer schlüpft hier in die Rolle des Mädchens, das ihn so sieht. Im Grunde ist der Kerl bloß ein eiskalter Lümmel, der Frauen um den Finger wickelt und sie ausnützt. Ihn charakterisiert ein für die Dichterin typischer Knappsatz: Wer ihn kannte, der mochte nicht mehr von ihm weg, so einzigartig war er. Natürlich ist bei einer Liebessüchtigen auch der Mond im Spiel, und nun heißt es von ihr und dem Mond: Eine solche Gewalt war in ihr, und der Mond war so schön, sie hätte den Mond essen können. Die Gewalt der Liebe, die Schönheit des Mondes und das Essen zusammenzupacken, das hat was!
Das Mädchen begeht den großen Fehler, den Falschen zu lieben, einen Mann, der sich ihr Verliebtsein zwar gnädig gefallen läßt, sich aber ansonsten keinen Deut um sie schert. Einen teuren Apfel hat sie für ihn gekauft und ihn auf Hochglanz poliert. Tagelang hebt sie ihn für den Geliebten auf, doch der kommt nicht, und der Apfel droht zu verschrumpeln. Der Mann kommt nicht, weil er sich inzwischen anderweitig vergnügt, wie das düpierte Mädchen feststellen muß. Und als er sie endlich wieder einmal besucht und sie ihm den Apfel am Morgen nach der gemeinsam verbrachten Nacht überreichen will, ekelt sich der Mann. Für ihn ist es eine Zumutung, so etwas in den kalten Magen hineinzuspeisen. Er will Tee. Tee, der seinen Magen wärmen könnte, ist aber nicht im Haus. Das Mädchen ist zu arm, um Tee besorgen zu können. Selten ist die paradiesische Gabe der Eva so derb verschmäht worden, selten hat ein vom Munde abgespartes Geschenk so jäh seine Verführungskraft eingebüßt. Marieluise Fleißers Mädchen greifen einem ans Herz. Über all dem seelischen Schaden, den sie nehmen, über all den Verstoßungen, die sie zu erleiden haben, bekommt man einen Eindruck davon, wie das Leben der armen jungen Dinger zu Beginn des letzten Jahrhunderts ausgesehen haben muß.
Marieluise Fleißer besaß die großartige Gabe, alles auf einen Haps ins grelle Licht zu rücken. Ihre Mädchen haben dürftige Kleider an und müssen sparen. Kummer haben sie jede Menge, das Maß ihres Kummers ist oft übervoll. In den zarten Händen der Dichterin werden sie geadelt und wandern daraus stracks ins Herz des geneigten Lesers.
Sibylle Lewitscharoff