telling a work of art /
Arbeiten die man sich erzählen kann
an e-mail project by Karin Sander
Betreff: Telling a Work of Art
Datum: Wed, 13 Feb 2019 18:20:00
Von:
Wolfgang Pehnt
An:
Karin Sander
Gustave Caillebotte. Un jour de pluie à Paris, 1877
Es regnet und wird auch nicht aufhören zu regnen. Fast alle Passanten haben ihre Schirme
aufgespannt. Nur die ärmeren Leute ganz im Hintergrund, die Kutscher, der Handwerker mit der
Leiter, die an eine Hauskante gelehnte Dienstmagd sind ungeschützt dem Regen
preisgegeben. Es wirkt, als werde eine Filmszene gedreht, obwohl es noch Jahre dauern wird,
bevor die Brüder Lumière ihren ersten Film im Grand Café vorführen können. Doch ein
Regisseur scheint schon „Action“ gerufen zu haben, und die Statisten haben sich auf den Weg
gemacht.
Kulissen brauchte die Regie nicht beizubringen. Für sie hatte der Stadtplaner Kaiser Napoleons III. gesorgt, Baron Georges-Eugène Haussmann. Wir befinden uns in Paris, an einer Kreuzung im achten Arrondissement, Rue de Turin und Rue de Moscou. Sechsstöckige Mietshausfassaden unter Schieferdächern, umgürtet von schmalen Balkons in jedem zweiten und fünften Obergeschoss, stoßen von allen Seiten vor. Was hier vorher stand, wurde von dem resoluten Stadtchirurgen niedergelegt. Den Verkehr besorgten Pferdedroschken. Zwischen ihnen konnte man das Kopfsteinpflaster einigermaßen gemächlich überqueren.
Der Maler dieser Szene, Gustave Caillebotte (1848-94), zählte zum Kreis der Impressionisten. Von ihnen unterschied sich seine vorteilhafte soziale Lage. Er war der Sohn eines begüterten Textilhändlers und Juristen am Handelsgericht und konnte sich nicht nur das Künstlerdasein und teure Steckenpferde wie den Bootsbau und das Segeln leisten. Er konnte es sich auch leisten, Bilder seiner Malerfreunde zu erwerben und damit ihre wirtschaftliche Situation zu erleichtern. Später vermachte Caillebotte seine Sammlung dem nicht allzu erfreuten französischen Staat, der nur einen Teil davon akzeptierte.
Caillebotte selber erlaubte es sich, Bilder zu malen, die nicht immer die sommerlichen Impressionistenfeste feierten, die Blütenräusche und treibenden Cumulus-Wolken, die flatternde Wäsche, das heitere Großstadtleben. Im Gegenteil, „un jour de pluie“ kündigt unter seinem schwefeligen Himmel noch weiteres Nass an. Es mischt sich mit den gedeckten Lichtern und mattierten Schatten, mit den bläulichen Schwarz- und den Silbergrautönen der Schirme, Zylinder und pelzbesetzten Kleider und dem verwaschenen Ocker der Häuserfassaden.
Was mag die Aufmerksamkeit des großbürgerlichen Paares in der rechten Bildhälfte geweckt haben? Nur dieser Mann und diese Frau blicken halb interessiert, halb besorgt nach rechts. Ist es ein Bekannter, der, unsichtbar für den Betrachter, auf sie zukommt? Eine Ladenauslage auf der anderen Straßenseite? Ein sich anbahnender Verkehrsunfall? Alle anderen Menschen (bis auf einen) gehen ungestört ihres Weges. Was immer es ist, der Anblick fesselt das Paar so sehr, dass sie fast dem Fußgänger vor ihnen in die Quere geraten. Vorsichtigerweise hat dieser Passant seinen Schirm schon nach rechts gekippt, um einen Zusammenstoß zu vermeiden.
Ungewöhnliches hat Caillebotte der Komposition seines Gemäldes zugemutet. Der grünliche Pfosten der Straßenlaterne und dessen Verlängerung durch den Schatten, den er wirft, zerteilt das Bild in zwei gleich große Teile. Der eine, rechte, ist dicht gefüllt mit den großbürgerlichen Herrschaften (man beachte die rosafarbene Perle im Ohr der Dame!) und dem angeschnittenen Paletot des ihnen entgegenkommenden Mannes. Der andere, linke, Teil des Bildes ist wie leer geräumt. Man wird aufgefordert, die Rinnsale zwischen den Kopfsteinen zu verfolgen, weil in dieser Hälfte kaum sonst etwas passiert. Wunderbarerweise fällt das Bild trotzdem nicht auseinander. Die kühl-violette Farbstimmung und die Häuserszenerie halten es zusammen – und ein winziges Detail, die Überschneidung des Laternenpfostens durch den äußersten Zipfel von Monsieurs Regenschirm. Nur dort greift die eine Bildhälfte in die andere über.
Das Bild ist ein Balanceakt planerischer Delikatesse, auch und gerade weil seine Disposition allen Regeln eines gewohnten Bildaufbaus zuwiderläuft. Es kündigt die Praxis einer anderen Kunstgattung an, der Photographie. Dem Photographen ist dieses Spiel der Anschnitte und Verkürzungen erlaubt, weil er Eindrücke anders aufnimmt. Wo der Auslöser des Apparats nur Bruchteile von Sekunden zur Registrierung der aufgenommenen Bilddaten zulässt, bleibt keine Zeit für Nachfragen. Wer verbirgt sich in den beiden Karossen, die von den Regenschirmen der Männer ganz links und fast in der Mitte verdeckt werden? Wie geht das Rencontre der drei Personen in der rechten Bildhälfte aus? Wechseln sie ein Wort der Entschuldigung? Und worüber hat sich das Paar echauffiert, das uns so nahe kommt, als müsse es mit uns, den Betrachtern, gleich zusammenstoßen – oder mit der Staffelei des Malers, die – nicht sichtbar – irgendwo vor der Leinwand aufgebaut sein müsste?
Caillebottes Bild ist eine Geschichte der nicht erzählten Geschichten. Mich haben sie verfolgt, zuerst in Chicago, wo ich das Gemälde im Art Institute für mich entdeckt hatte, dann auf Ausstellungen 2013 in der Frankfurter Schirn, jetzt in der Berliner Alten Nationalgalerie.
Wolfgang Pehnt