telling a work of art /
Arbeiten die man sich erzählen kann
an e-mail project by Karin Sander
Betreff: Re: telling a work of art
Datum: Sun, 21 Apr 2019 8:50:00
Von:
Matthias Flügge
An:
Karin Sander
Liebe Karin,
ich bin spät mit meiner Antwort, aber das liegt daran, dass ich zu lange überlegt habe, von welchem Werk ich dir schreibe.
Ich wüsste von etlichen folgenreichen Begegnungen zu berichten. Am Ende wurde es (nur?) die Begegnung mit der Reproduktion eines Werkes.
Das war 1970. Da habe ich mein erstes „Westbuch“ über Kunst auf der Leipziger Buchmesse geklaut. (Ich hoffe das ist inzwischen verjährt.) Es war an einem Gemeinschaftsstand französischer Verlage. Eine Monographie über René Magritte aus der Reihe „La septième face du dé“ mit eindrucksvollen Photographien des Meisters in all seiner bürgerlichen Selbstinszenierung (dunkler Anzug, weißes Hemd, Schlips und Melone auf dem Kopf) und vielen Abbildungen vornehmlich späterer Bilder, also solchen, die nach der „barbarischen“ Periode entstanden waren. Eines davon hat mich damals ins Herz getroffen. „Le mois de vendanges“, 1959, 130 x 160 cm.
Es zeigt den Blick auf ein geöffnetes Fenster in einem Zimmer mit blauen Wänden und einem Fußboden aus hölzernen Dielen, die in Richtung des Fensters hin verlegt sind. Dessen offene Flügel sind mit einem blickdichten Stoff verhängt. Wären sie geschlossen, könnte man nicht hinausschauen. Draußen vor dem Fenster steht eine Schar von Männern in Halbfigur, alle mit denselben nichtssagenden Gesichtern, gekleidet in Anzüge mit Schlipsen und Melonen auf dem Kopf. Unter einem Wolkenhimmel stehen sie in perfekter Isokephalie. Man sieht in Überschneidungen die ersten drei oder vier Reihen von ihnen und weiß, noch Hunderte, Tausende, Millionen dieser CLONS (das Wort war mir damals unbekannt) stehen dahinter und starren blicklos in das Zimmer, in dem der Betrachter (also ich) sich befindet. Der Einzelne im geschlossenen Raum, dem anonyme Figuren den Blick auf die Welt versperren und ihn zugleich mit ihrer Eiseskälte beobachten und irgendwie auch bedrohen. Nur der Himmel ist offen mit Wolken wie auf holländischen Bildern oder wie Richter sie Jahre später gemalt hat. Wenn das Bild nach klassisch ikonologischer Lesart ein Fenster zur Welt ist, so hat hier das Öffnen des realen Fensters die Welt verschlossen. Was für eine Prophetie der gegenwärtigen Situation, in der die Öffnung der Welt eine gewaltige Ideologie der Verengung erzeugt. Das hab ich mit 18 nicht geahnt, weil ich es (natürlich) allein auf mein Lebensgefühl im Osten bezog.
Ich bat zu dieser Zeit meinen Freund Ali, der Günther Albrecht heißt, Buchhändler war und malen kann, mir nach der Abbildung eine Kopie des Bildes in Öl und im Originalformat nach der kleinen Reproduktion zu verfertigen. Er hat das bravourös hinbekommen. Die Leinwand hing noch jahrelang in meinem Zimmer. Jetzt steht sie in der Garage. Aber nun ist „Der Monat der Ernte“. Ich werde sie endlich restaurieren lassen. Danke Karin!