telling a work of art /
Arbeiten die man sich erzählen kann
an e-mail project by Karin Sander
Betreff: Telling a Work of Art
Datum: Thu, 11 Apr 2019 12:10:00
Von:
Kathrin Schmidt
An:
Karin Sander
Albrecht Dürer, Knabenkopf nach rechts geneigt, Nationalbibliothek Paris
Ich bin sechs Jahre alt und kann endlich lesen. Meine Mutter schleppt mich in die kleine Stadtbibliothek, wo ich mir Bücher ausleihen kann. Leider bei jedem Besuch nur drei, was meine häufige Verweildauer dort erklärt. Schade, dass am Samstag immer alles ausgelesen ist.
Zum Glück gibt es auch zu Hause Bücher. Mit einem klettere ich sonntags regelmäßig in die Gabelung des Eibenstrauches im Garten, wo ich mir aus Brettern eine Liegestatt eingerichtet habe. Nicht einsehbar (glaube ich jedenfalls) und weich ausgepolstert mit Decken. Das Schwelgebuch ist schon 1937 erschienen, da war meine Mutter ein Jahr alt, und entstammt der Reihe „Die Blauen Bücher“ aus dem Verlag Karl Robert Langewiesche, Königstein im Taunus & Leipzig. (Dass der Verlag sich in jener Zeit den Nationalsozialisten andiente, ahne ich damals nicht.) Das Buch enthält Kinderbildnisse aus fünf Jahrhunderten deutscher und niederländischer Malerei. Nur wenige sind in Farbe reproduziert, die meisten schwarzweiß. Ich mache Schönheitsrangfolgen der Abgebildeten. Staune über die Prinzessinnenkleider der meisten Mädchen, frage mich aber auch, ob man sich darin überhaupt bewegen kann. Sie sehen steif und mitunter körperverformend aus. Am besten gefällt mir „Die kleine Prinzessin“ von Paulus Moreelse. Mein Vater versucht mir auszureden, dass „Prinzessin“ ein erstrebenswerter Stand sei. Eine Prinzessin sei faul und verzogen und arbeite nicht, und anstatt meine abendliche Gutenachtgeschichte zu hören, muss ich mir eines Abends den Dia-Rollfilm „Die Prinzessin auf der Erbse“ anschauen, den er mit dem Projektor Pouva Magica aus tschechischer Produktion vorführt. Mich überzeugt das nicht, aber wenigstens behalte ich den Wunsch, eine Prinzessin zu sein, nun eher für mich. Und fange an, beim nächsten Schwelgen in der Eibe eine Unschönheitsrangfolge zu erstellen. Darin ganz vorn: Albrecht Dürer, Knabenkopf. Schwarzweiß.
Der abgebildete Junge muss dick sein, auf breitem, kräftigem Hals sitzt ein wuchtiger Kopf. Ich leide schon länger an meinen Stampferbeinen, am Doppelkinn. Auch darum finde ich den Jungen unansehnlich. Die aufgeworfenen Lippen, die wulstige Brauenpartie, die markant knorpeligen Ohren – nicht eben ein Traum. Er hält den Kopf schief, so schief, dass es ihm eigentlich wehtun muss. Er sagt nichts. Er schweigt. Er stiert. Warum schaut er mir eigentlich so durchdringend in die Augen? Ich habe ihm doch nichts getan! Misstrauisch versuche ich seinem Blick auszuweichen. Erfolglos. Was will er nur von mir? Jetzt fängt er auch noch an zu grinsen. Ich fasse es nicht, kneife die Lider zusammen, reiße sie wieder auf: Das Grinsen ist verschwunden, aber dafür gibt er nun mächtig mit seinen Locken an. Wie Kerry Semmel aus der Kindergartengruppe. Pah, dafür sind seine Locken ziemlich kurz. Meine Haare dürfen auch nicht lang werden. Immer wieder schleift mich meine Mutter zum Friseur und lässt sie stutzen. Die Schadenfreude über das Kurzhaar des Jungen beginnt einem flauen Gefühl zu weichen. Ich merke, wie sich meine Augen mit Tränen füllen. Warum nur darf ich meine Haare nicht wachsen lassen? Ich bin doch ein Mädchen! Ich muss das doch dürfen! Jetzt nickt mir der Junge zu. Überhaupt fühle ich mich auf einmal bestärkt von ihm, auch so einen skeptischen Blick aufzusetzen und nur darauf zu warten, was meine Mutter meinem Wunsch nach langem Haar wieder einmal entgegenzusetzen hat. Dann würde ich sie auch so ansehen wie der Junge mich, nichts sagen, nur Trotz zur Schau tragen. Sie wird platzen.
Eine platzende Mutter bringt mich nun wieder zum Lachen, während die Tränchen abgewischt werden wollen. Der Junge zwinkert mir zu, wobei ich endlich das Grübchen sehe, das die Mitte des Kinns markiert. Wie bei Reinhard, dem leider viel älteren Nachbarsjungen, in den ich verliebt bin. Zum Glück ist der aber nicht dick. Warum sollte es eigentlich ein Glück sein, dass er nicht dick ist? Wäre er es, dürften meine Chancen womöglich größer sein.
Ich staune über die Gedankenausflüge, zu denen der Dürerknabe mich treibt. Er scheint ein dünnes weißes Hemd zu tragen, nicht so ein protziges Gewand wie der „Großherzog Carl August von Sachsen“, gemalt von Johann Georg Ziesenis, oder „Der Knabe mit dem Windhund“ von Aelbert Cuijp. Beide lagen in der Unschönheitsrangfolge bis eben noch weit hinter dem dicklichen Trotzkopf. Ich weiß nicht, wie mir geschieht, aber Trotzkopf wird langsam schöner. Er gefällt mir auf einmal. Jetzt prickelt es sogar. Beinahe so wie abends, wenn ich im Bett liege und an Reinhard denke …
Beim Abendbrot frage ich meine Eltern, ob sie Albrecht Dürer kennen. Sie schauen erst sich, dann mich ungläubig an, ehe mein Vater von ihm erzählt. Meine Mutter unterbricht: Das ist doch noch nichts für sie! Ich halte den Kopf schief. Noch schiefer. Spüre, wie mein Kinn sich in dieser Haltung mehr als verdoppelt, und übe den aufmüpfigen Blick. Tatsächlich zieht sich meine Mutter merklich zurück und vertieft sich in ihr Käsebrot.
Erst viel später werde ich eine farbige Reproduktion sehen und feststellen müssen, dass jene im Blauen Buch seitenverkehrt war. Macht nichts, denke ich heute, es war eine bahnbrechende Begegnung, die den Schönheitsbegriff vom Kopf auf sehr menschliche Füße zu stellen begann.
Kathrin Schmidt